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Der Titan, launisch oder apokryph

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W ins ton Churchill: Geschichte. Band III: Das Zeitalter der Revolutionen. Verlag Scherz und Goverts, Stuttgart-Bern. 407 Seiten

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W ins ton Churchill: Geschichte. Band III: Das Zeitalter der Revolutionen. Verlag Scherz und Goverts, Stuttgart-Bern. 407 Seiten

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Der dritte Band des historischen Werkes, für das Winston Churchill verantwortlich zeichnet — wir haben diese Formulierung mit Bedacht gewählt —, ist erschienen, ohne daß der Leser der Lösung der geheimnisvollen Frage, warum die „Geschichte der Englisch sprechenden Völker“ sich in der vorliegenden Uebersetzung in „Geschichte“ schlechthin verwandelt hat, nähergekommen wäre. Der sowohl prä-' tentiöse als auch irreführende Titel ist nicht das einzige Rätsel, das sich mit diesem Band verbindet. Wieviel hat Churchill hier selbst geschrieben und wieviel sein Team? Wieweit hat er es verstanden, dem Team über die Fähigkeit der churchillischen Schreibweise hinaus den Stempel seines Wesens und Denkens aufzudrücken? Das sind Fragen, die schwer zu beantworten sind, und bei dem Takt und der Diskretion der Mitarbeiter, die der Titan früher oft noch zur mitternächtlichen Stunde nach Chertwell kommen ließ, werden sie vielleicht nie beantwortet werden. Was bleibt, ist die Stilkritik, die sorgfältige Durchleuchtung des Textes und die Methode vorsichtigen Vergleichens. Zunächst gewinnt man den Eindruck, daß der dritte Band lebhafter und unmittelbarer ist als der zweite, persönlicher auch und farbiger. Man wird gut daran tun, aus diesem Eindruck keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Das „Zeitalter der Revolutionen“ beginnt mit dem Spanischen Erbfolgekrieg und führt big zur Schwelle der Viktorianischen Epoche. Es leitet also mit jenem Geschichtsabschnitt ein, der Churchill am vertrautesten und nächsten ist, mit jener großen Gestalt, der sein historisches Hauptwerk gilt, dem ersten Herzog von Marlborough also. Immer wieder hat sich sein Geist mit dieser Erscheinung beschäftigt, stets von neuem ist das Gefühl um eine Aehnlich-keit des historischen Auftrages in ihm aufgeklungen. Team oder Titan, das zumindest hätten sie gar nicht langweilig oder farblos schreiben können. An anderen Stellen aber geschieht es, daß man stutzt, innehält und sich verwundert fragt, wer da denn eigentlich die Akzente gesetzt hat.

So lesen wir beispielsweise abschließend über den Wiener Kongreß: „Dennoch war Castlereagh bereit, um der Stabilität willen die Wiedererrichtung der reaktionären Herrschaft der Romanows, der Hohen-zollern und Habsburger im größten Teil Mittel- und Osteuropas hinzunehmen, obwohl dies im Widerspruch zu allen Volksbewegungen stand, die um nationale Unabhängigkeit und Freiheit rangen.“ Dieser Passus ist recht bemerkenswert, dann er ist typisch für eine historisch falsche Betrachtungsweise, die sich spnst bei Churchill fast nie entdecken ließ, und zu vielem, was er früher sagte, in Widerspruch steht. Die Betrachtung ist aus zweierlei Gründen unhistorisch. Sie erweckt erstens die Meinung, daß Castlereagh jemals zwischen der Anerkennung der Herrschaft der Habsburger, der Hohen-zollern und der Romanows und einer anderen Alternative hätte wählen können. Davon konnte natürlich gar nicht die Rede sein. Es ging um die Machtbalance dieser drei Häuser im europäischen Kraftfeld. Sie täuscht zweitens vor, daß sich schon damals die Summe der nationalen Aspirationen gegen die Dynastien gewandt hatte. Auch davon kann keine Rede sein; es war dies wohl in dem einen oder anderen Exempel — Polen! — der Fall, im übrigen waren die Nationen ja noch eben von den Dynastien in den Freiheitskampf gegen Napoleon geführt worden, verständlicherweise hofften sie zunächst auf die Verwirklichung ihrer Aspirationen nicht gegen, sondern durch die Dynastien. Die Beobachtung ist an sich wohl richtig, sie gehört aber einer späteren Zeit an und wird gewaltsam in ein historisches Bild früheren Datums hineinkomponiert. Solche Fehler sind Churchill früher niemals zugestoßen. Auch entspricht gerade solches Urteil nicht seinen Lebenserfahrungen. Zweimal hat er mitgemacht, wie Schlagworte und Massenemotionen einen gewonnenen Krieg verdarben; es wäre also nur logisch, wenn er das letzte Friedenswerk, wo das nicht der Fall war, mit Respekt und leisem Neid betrachtete.

Wir haben hier eine bestimmte Stelle herausgegriffen, um darzulegen, welche Anhaltspunkte wir besitzen und welche Hilfsmittel zur Verfügung stehen. Die Kritik an dem zitierten Passus darf nun freilich nicht mit einer Kritik am Werk als solchem verwechselt werden, das in seinem majestätischen Fluß, der Bewältigung des Stoffes und dem in der Gliederung sichtbar werdenden ungewöhnlichen Können, ebenso eindrucksvoll wie lesbar ist. Es hat übrigens in Deutschland keine sonderliche Resonanz gefunden, obwohl das Thema in seiner Abgerundetheit den enzyklopädischen Zeittendenzen entgegenkommen würde. Auch hier dürfte der Titel geschadet haben.

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