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Der Wohnbaukomplex

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Es ist nichts gebessert, wenn man über die täglichen Versprechungen der Lösung des Wohnungsproblems sich ärgert oder bitter lacht. Nützlicher ist es, sich klarzumachen, was für einen Klotz von Problemen man auftürmt, wenn man die selbstverständliche“ Forderung ausspricht: jedem seine Kleinwohnung! Nur wenn man den Komplex der aufgescheuchten Fragen mit allen • seinen Widersprüchen sieht, begreift man, warum es in den vom Krieg berührten oder von der sozialen Unruhe angesteckten Ländern nirgends besser ist als bei uns. Nie werde ich den New-Yorker vergessen, der 1947 seine Wiener Freunde besuchte und das die heutige Welt beherrschende Imaginärsein von Besitz und Nichtbesitz so ausdrückte: „Ihr habt alle viehgrößere Wohnungen als wir!“ (Allerdings war er weder bei Gebombten noch bei DPs eingeladen, aber Tatsache ist, daß begüterte Amerikaner oft sehr kleine und manche Wiener sehr große Wohnungen haben.)

Die Ungezählten, die in Untermiete wohnen, sagen: „Das Volumen an nationaler Arbeit, welches zur Behebung des Notstands ausreicht, ist bei weitem kleiner als jenes, welches im Diktaturoder Kriegsfall augenblicklich verfügbar gemacht würde. Die Arbeitslosen sind da. Wie, kläglich ist es um das öffentliche Wesen bestellt, wenn man nicht zumindest sie zu nützlichem Tun organisiert.“ Selbstverständlich antworten darauf die, die eine Wohnung haben: „Wer die Katastrophe ausschließt, wer die Dauerlösung sucht, muß die Sache von allen Seiten beleuchten. Dies tut die Demokratie und deshalb ist sie langsam.“ Es ist ihnen unbehaglich bei solcher Prognose. Aber ganz dumm ist ihr Denken nicht. Es könnte dies geschehen und jenes eintreten, was die Versöhnung von Eigentümsdenken und sozialer Forderung bringt. Das Volk hält sehr viel aus. Die Explosion steht vielleicht nicht unmittelbar bevor. (Täte sie es, so wäre Energie im Wohnbau das Allerabsurdeste.) Gewisse Anzeichen — etwa die mit 1% verzinsten Fondsbauten — sind da, die vielleicht einer Herabsetzung des schrecklichen Baugeldzinsfußes den Weg bereiten. Ein finanzpolitischer Herkules, der diese Haupt- und Staatsfrage löst, würde augenblicklich auch den Nonsens der Alt- und Neumieten, der Begün-stigtenwohnungen an der Wurzel packen. Da die verflossene Epoche einen enormen Kurssturz der „aktiven“ Lebenshaltung brachte, wartet man ab und „beleuchtet“ weiter. Halbklug, nicht eigentlich dolos, tun es in Deutschland, Frankreich, England, Italien die zur rettenden Tat Verpflichteten — denen das Wohnproblem nicht gerade auf den eigenen Fingern brennt.

Aber nehmen wir- einmal an, das eigentliche Schicksal des sozialen Zu-stands und damit des Bauens: d i e Finanzierungsform, sei gelöst und das Dutzend großer und kleiner Sekten: Bausparer, Verstaatlicher, Kommunalisierer, Gemischtfinanzierer, Genossenschaftler — hielte die Baugelder parat und stellte den Baumeistern die Aufgabe, so schnell und so billig wie möglich brauchbare Wohnungen zu bauen. Auch auf diesem von der Politik scheinbar nicht verwirrten Teilgebiet würde sich alsbald herausstellen, was sogar für die Mathematik heutzutage gilt: Niemand beherrscht den Gesamtkomplex. Es ist — mit geringer Uber-treibung gesagt — überhaupt mehr eine Sache der Gnade als des fundierten Wissens, wenn in lebendigen Dingen einer dem Optimum nahekommt. Bis zu einem hohen Grade ist die Behauptung richtig, daß die Intelligenzen sich gegenseitig auffressen. Zumindest die, die mit Eigentums- oder Machtinteressen gekoppelt sind. Die Statistik, das freundliche und willige Mädchen, hilft ihnen dabei.

Um dies darzutun, sei ein technisches und ein formales Grundproblem des Wohnbaus angeführt: Wenn die Forderung nach der leistungsfähigsten Bauart sich stellt, so würden für Wien Holzhaus, Stahlhaus und vielerlei Präfabrikation sofort ausscheiden. Der und jener konstruktive Außenseiter — das Messerschmitt-Haus etwa — würde vielleicht nachzüglerische Befürworter finden. Aber im großen ganzen würde sich der Kampf ebenso wie in Deutschland zwischen Ziegelbau und monolithem Schüttbau abspielen. Dies wäre — so sagt der Laie — eine gesunde Konkurrenz. Man soll beide starten lassen. Man sieht dann, wem die Palme gebührt. So zu denken bedeutet aber, daß man nicht schnell und mit allen Kräften die Wohnungsnot behebt, sondern abwartet, bevor man die Großinvestitionen für das eine oder andere, für die Erzeugung von Lochziegeln oder gebranntem Betonzuschlagstoff, von Stahlschalungen, Großmischern usw. vernünftigerweise vornimmt. Der Preisvergleich wird aus vielen Gründen unklare Resultate liefern. Da und dort wird ein Rückschlag erfolgen, den die Gegenseite aufbauscht. Die Dauererprobung der neuartigen Wände würde ebenfalls zu widersprechenden Gutachten führen. Kurzum, die Komplexität dieses einen und relativ einfachen Konstruktionsproblems läßt kaum eine schlagartige Verbesserung der Leistung, sondern nur eine schrittweise Entwicklung zu. Bei ihr setzt sich zwar schließlich der Fortschritt durch, aber zunächst kommen die Verschiedenheiten der konservativen oder modernistischen Grundveranlagungen der Fachmänner zum Vorschein. Auch das technische Leben ist charakterbetont. Von den Kapitalsinteressen des Ziegels und Zements ist dabei völlig geschwiegen. Ebenso ist es die Entscheidung über die Hausform. Die Frage Kleinhaus oder Stockwerksbau ist sogar im sozialen Wohnbau der reichen Schweiz zugunsten des letzteren entschieden. Dies ändert nichts an der Tatsache, daß überall in Europa die verständlichen Sehnsüchte der geplagten Menschen nach dem „Klein, aber mein“ zu mächtigen, ja leidenschaftlichen Bewegungen von

Kennern der Massenpsyche mobilisiert werden. Die zur Behebung der Wohnungsnot tauglichste und angesichts der Finanzlage gebotene Lückenschließung wird daher von den Stadtpolitikern überall nur zögernd vorwärtsgetrie.-ben. Gerade hier aber wäre die moderne Bauart besonders leistungsfähig. Wer redet aber dem Grünlandsiedler ein, daß er einstweilen zurücktreten muß, bis die Stadt wieder ein Gesicht hat und ein wenig Geld in der Kassa? Er wird seine Beglückungsabsicht mit jedem Argument verteidigen. Er wird Anhänger finden, die dem Befürworter des Vernünftigen jede Böswilligkeit des Zinswuchers unterschieben. Er wird die modernen Bauarten, die sich schlagend nur am Großobjekt entfalten können, flügellahm machen. Sogar die Siedlungsform ist vorderhand ein Komplex, ein Wirrsal von Sehnsüchten, nicht reif zu einem Stil.

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