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Die charakterlosen Großstädte

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und der Ausweg: Bauordnung mit Gestaltungsfreiheit Von Arch. Prof. Friedrich Lehmann

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und der Ausweg: Bauordnung mit Gestaltungsfreiheit Von Arch. Prof. Friedrich Lehmann

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Könnte man doch wenigstens dem Künstler die Hände freimachen! Es ist ganz unwahrscheinlich, daß ab 1850 weniger Talente geboren oder daß die Leute dem Schönen gegenüber gleichgültiger wurden. Und doch setzt um diese Zeit die Monotonie, Gleichgültigkeit und die Gemeinheit formaler Gesinnung ein, die den Stadterweiterungen in ganz Europa eigen sind, und die die Vermassung sichtbar macht, die uns so schwer auf der Seele liegt. Wir wollen nicht leichtfertige Schlüsse ziehen, aber: 1850 beginnt etwa die Zeit, die die Früchte des großartigen Fortschritts in der Erziehung des Volkes erntet. Würde man zu dem Schlüsse kommen, daß das Häßlichwerden der Städte mit dem Bildungsfortschritt zusammenhängt, mit der Produktion ungerichteter, sich gegenseitig aufhebender Urteilskraft, so müßte man noch lange nicht die Bildung verneinen, könnte aber versuchen, den Schaden des Gescheitseins vielleicht zu verhindern. Denn bei den ästhetischen Debatten, bei den Wettbewerben usw. ist es ja wie in dem Teiche, wo gleichstarke Wellenerreger sich gegenseitig auslöschen und der hineinspringende Frosch stolz das sichtbare Resultat erzeugt.

Doch gehen wir zum Thema über: Von einem bestimmten Intelligenzgrad angefangen sind außerordentlich viele Menschen der Meinung, man könne Ordnung erzwingen, und dies sei eine verdienstvolle Handlung. Es gehört unendlich viel mehr an Intelligenz wie an Herzensgüte dazu, um den Vorteil des Ungeordneten zu sehen und zu dulden. Wer dies durchschaut und Freude an der Aufstellung von Kausalitäten hat, beweist ziemlich leicht, daß es die Bauordnungen sind, welche die Schuld an der Häßlichkeit der Großstädte tragen. Die Bauordnungen erzwingen die gleiche Gebäudehöhe, die sich in den Quartieren gemäß der Entfernung zum Zentrum abstuft. Sie reglementieren die Baufluchten, so daß also niemand vor- oder zurücktreten, niemand kleiner oder größer sein kann. Sie legen die kubische Gestalt, das primäre Ausdrucksmittel, fest. Sie sind außerdem Ursache, daß mit der Stockwerkszahl die Ausnutzungsfähigkeit und damit der Baugrundpreis sich stabilisiert. Dadurch kommt auch in das finanziell juristische Grundgefüge des Bauens die Starrheit. Da Charakter unbedingt an Handlungsfreiheit und Möglichkeit zum Anderssein geknüpft ist, so mußte also — was zu beweisen war — die baubehördlich geleitete Großstadt in Frankreich, Deutschland, Österreich usw. charakterlos werden.

Dies klingt absurd und ist selbstverständlich in der Eisenbartsch en Logik nicht wahr. Sehr wohl können charaktervolle Hausgesichter entstehen, auch wenn die Gesimshöhen sich nicht unterscheiden. Weiter gibt es amerikanische Großstädte von allergröbster Banalität, obwohl Baubehörden von der lehrerhaften und verknöcherten Art der mitteleuropäischen nicht existieren. Man müßte also ein kompliziertes Einerseits-Andererseits, die vorhandene und die fehlende Tradition, die Geschultheit oder die Narrheit der Architekten, die Beweglichkeit oder Blockierung des Kapitals usw. als Motive zur Charakterlosigkeit gesondert verfolgen. Trotzdem würde man nicht dahinterkommen, warum Wien oder Prag oder München früher schön bis leidlich baute, während die späteren Riesenquartiere unerträgliche Trauer und Gewöhnlichkeit ausstrahlen. Die schrecklichen Sonntage der in die mitteleuropäische Großstadt Gebannten, die endlosen Zeilen, die jeden Daseinsmut nehmen und durch die Sichtbarkeit des in Portionen abgeteilten Lebens den Auf-

scbwung niederdrücken! Was möchte es nützen, wenn da und dort ein Künstler die schönproportionierte Fassadenmaske dem Haus — dieser Wabe, diesen Madengängen — vorgebunden hätte! Das reglementierte Leben der grauen Quartiere drückt Lebensleidenschaft nicht aus, und da der Künstler ohne Leidenschaft nicht mitreißend ist, so nützt selbst gute Fasson nichts.

Und umgekehrt: Wo eine echte — vielleicht selbst eine vulgäre — Leidenschaft Gestalt findet, wie bei den amerikanischen Wolkenkratzern oder bei den temperamentstrotzenden neuen italienischen Bauten, wird auf einmal das Stadtbild interessant. Die Leidenschaft sichtbar zu machen, was man mit Stahl und Glas, mit der Grundrente, mit den lufthungrig aufgerissenen Kuben machen kann, setzt unter allen Umständen den starken andersartigen Kontrast, erregt Neugierde, Beifall, Empörung, erregt eigene Lebendigkeit.

• Wir wollen hoffen, daß die Reklame, die den amerikanischen wie den italienischen Gewaltbauten anhaftet, sich als hohl und leer erweist. Denn: Würden die Bauten Dauerwirkung haben, so wären wir Mitteleuropäer mit der vielen Kultur, die Sich um Zentimeter streiten, wenn es gilt ein — der Geschichte nach altes, dem Material und der Farbe nach sehr neues — Nachbargebäude vor der bösen Neuzeit zu schützen, bedenklich blamiert. Es hieße ja, daß unsere zu Ein sprüchen verdichtete Bildung nur zu hindern und nicht zu bessern vermag. Es hieße, daß es gar nicht auf den Zentimeter, sondern auf die sichtbar werdende Vitalität ankommt, und daß diese — in der Kunst zumindest -— besser ist als die Gescheitheit. Kurzum, es würde die alte Frage gestellt, ob man mit Bildung Kunst machen oder wenigstens fördern könnte. In dieses langsam äußerst heikel werdende Thema wollen wir aber nicht ein- treten.

Wir wollen einen positiven Vorschlag machen: Baulinien- und Höhenbegren zung kamen, als die spekulative Aus-nützung der Baugründe der atmenden Stadt das Leben abschnürte. Man mußte verhindern, daß man zu hoch und zu tief, daß man ein licht- und luftverhinderndes, viel zu großes Volumen baut. Nun kann man sich vorstellen, daß genau derselbe Effekt erzielt wird, wenn man es den Bauherren freistellt, dasselbe Volumen, welches die heutigen Bauklassen zulassen, in anderer Gestalt zu bauen. Also mit beliebiger vorderer und hinterer Baulinie und mit beliebiger Höhe. Ijicht und Luft würden bei gleichem Kubus für die Nachbarn ungefähr mit gleichem Vor- oder Nachteil zugeteilt. Der Baugrund wäre in gleicher Weise ausgenutzt, würde also den für die öffentlichen Finanzen äußerst wichtigen Wert behalten. Straße, Verkehr, Kanal, elektrisches Kabel würden nicht mehr und nicht weniger belastet, als wenn man nach Vorschrift baut. Denn im gleichen Kubus sind gleichviel Menschen, und alle dosierbare Qualität des Hauses ist proportional der Menschenzahl.

Man muß an die endlos gleichen und langweiligen Gesimshöhen — etwa Meidlings — denken, um sich vorzustellen, was zu gewinnen wäre: Die

Freiheit der primären Gestalt, die Freiheit, jenen Hauswürfel zu wählen, der für den Zweck am nützlichsten ist. Man kannte also ein Warenhaus, ein Kino, ein zweigeschossiges Restaurant bei tiefer Parzelle sehr tief, aber weniger hoch als die Nachbarn bauen. Umgekehrt könnte man bei Fernsicht, Parklage ein seichtes, aber höheres Haus planen. Das Mittelalter hat fesselnde Straßensilhouetten. Es ließ da und dort einen Vorgarten frei und pflanzte Bäume.

Näher besehen, ist dieses anscheinend rein architektonische Thema nichts anderes als ein Gedankensplitter im bangen allgemeinen Thema: Wie erkämpft man gegen die künstlerische Gleichmacherei, gegen die Bildungsphilister, die nichts als „Ordnung“ begreifen, ein Endchen, einen Rest, eine Ecke im Bezirk des Seins, wo Künstler freie Menschen sein dürfen? Wo man den nicht gängelt, der niemandem schadet?

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