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DIE EXTREME BERÜHREN UNS

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Der Mensch ist nicht mehr das Maß aller Dinge. Der Mensch ist anderthalb bis zwei Meter groß, er wiegt in der Regel hundert bis zweihundert Pfund (oder fünfzig bis hundert Kilogramm, je nach dem Breitegrad), er hat eine durchschnittliche Lebenserwartung von knapp siebzig Jahren, und aus der Steckdose in seiner Wohnung kommt Wechselstrom mit 220 Volt.

Aber wer beschäftigt sich heute noch ernsthaft mit Metern, Kilogramm, Jahren und Volt? Das ist doch alles zu altmodisch — teils viel zu plump, unhandlich und zu groß, teils viel zu lächerlich und winzig. Wir streben nach den Megas, aber auch nach den Mikros, wir sprechen von Gigawatt und Picofarad, von zweistelligen positiven oder negativen logarithmischen Potenzen.

Für unsere Messungen im Weltall wird uns selbst das gute alte Lichtjahr schon zu winzig, während anderseits für das intermolekulare Geschehen mit so riesigen Größen wie etwa einer Angstrom-Einheit (ein zehnmillionstel Millimeter) nicht mehr gearbeitet werden kann. Und was die Gewichte anlangt, ist die Situation kaum anders: Jede bessere Atombombe gibt ihre Zerstörungskraft in Megatonnen von hochbrisantem „klassischem“ Sprengstoff an, und für das Gewicht der Himmelskörper, die unsere nächsten Reiseziele sind, müssen wir uns mit Potenzen von Tonnen behelfen. Umgekehrt sind Milligramme gerade noch als Penicillin-Dosis verwendbar, aber für alles andere viel zu gewichtig: Hundertstel Mikrogramm — das ist eine leidlich moderne Einheit.

Mit der Temperatur ist es nur wenig besser. Vor 250 Jahren konnte ein Wissenschaftler namens Fahrenheit noch allen Ernstes der Uberzeugung sein, nirgendwo könnte es jemals kälter sein als an jenem Winterabend in Danzig, an dem man minus 17,8 Grad Celsius hatte messen können. Und so setzte er denn seinen Nullpunkt bei dieser Temperatur an.

Heute wissen wir, daß auch unsere Kälteempfindungen kein Maßstab sind und daß der absolute Nullpunkt nicht bei minus 17,8 Grad Celsius liegt, sondern bei ungefähr minus 273 — oder, zu gut wissenschaftlich, bei 0 Grad Kelvin, 0 Grad absolut. Uns mag es wohl bei 37 Grad im Schatten (100 Grad Fahrenheit, 310 Grad absolut) heiß vorkommen, aber für den Kernfusionsprozeß benötigt man, wenn ich recht gehört habe, einige Millionen Grad. Jedenfalls sind wir bereits eifrig im Begriff, für Atomreaktoren, Weltraumschiffe und ähnliche Konstruktionen Materialien zu erfinden, die zumindest bis über 2000 Grad hitzebeständig sind.

Aber nicht nur in den Maßen und Gewichten verblassen unsere traditionellen Einheiten zur Bedeutungslosigkeit, auch sonst geht überall der „Trend“ einerseits ins immer Größere, anderseits ins immer Kleinere, einerseits ins All — oder zumindest Erdumspannende —, anderseits ins Lokalste, Individuellste. Die Pläne der Welrtfluglinien werden aufeinander abgestimmt, aber ein fast völlig vergessener Brauch im Kleinen Hinterbrunnertal wird in mühevoller Restaurierungsarbeit wieder hochgezüchtet. Die Esperantisten kämpfen hartnäckig um eine Weltsprache, aber die Fachwelt jubelt, wenn ein prominenter Romanist mit Hilfe von drei halbmumifizierten Patriarchen in einem Friauler Dorf eine neue Spielart eines rätoromanischen Dialekts wissenschaftlich zu erfassen mag.

Auch die Dauer ist vor dem Hang zu den Extremen nicht verschont geblieben: einerseits wird eifrig konserviert, archiviert und unzerstörbar gemacht, anderseits beruht die Wirtschaft immer mehr auf dem Prinzip des schnellen Verschleißes. Ein altes Stück Pergament wird in Helium aufbewahrt, aber ein neues Einfamilienhaus kann in dreißig Jahren, nach der letzten Rate, hoffnungslos baufällig werden. Eine Tube Kondensmilch kann Jahre überdauern, aber die zur gleichen Zeit gekauften Möbel oder Kleidungsstücke sind bis dahin teils veraltet, teils zerfallen, teils nicht mehr ausbesserungs-fähig. Jeder verschollene Novellenschreiber aus dem 16. Jahrhundert wird zur literarischen Sensation, während gleichzeitig stundaus stundein die Rotationsmaschinen und Buchpressen heißlaufen mit Druckwerken, nach denen in 24 Stunden oder 24 Wochen kein Hahn mehr kräht — höchstens der Bibliothekar oder Archivar, dem eine Nummer in seiner Sammlung fehlt.

Die Welt wird zugleich immer unverständlicher und immer primitiver. Nur eine Handvoll Physiker vermag die neuesten Forschungsresultate durch- und weiterzudenken und ein modernes Weltbild zu erfassen. Aber jeder Dorftrottel kann eine erbettelte Münze in den Musikautomaten werfen und sich auf diese Weise die Technik dienstbar machen.

Selbst die „Mitmenschen“ sind Opfer der Extremsucht: sie werden heute teils als homogene Masse betrachtet, teils durch detaillierteste Meinungsforscherinterviews individuell ausgehorcht. Sogar in den politisch-weltanschaulichen Konzepten spielen die Extreme eine größere Rolle als früher. Dahin ist die hierarchische Gliederung mit immer höherem Adel an der Spitze. Jetzt ist es einerseits die weltumspannende alleinseligmachende Ideologie, für die die Werbetrommel gerührt wird, oder es ist der einzige einmalige historisch-supermonumentale Führer. Und wenn diese Extreme sich In der absoluten Diktatur moderner Prägung nicht nur berühren, sondern umarmen, dann wundert das niemanden mehr.

Eine Etage niedriger und zwei Etagen harmloser dasselbe nochmals: anonyme Besuchermassen und dann plötzlich, jäh herausgegriffen der 50.000 Besucher — Fernsehkameras richten sich auf ihn, der Bürgermeister überreicht ihm ein Festgeschenk. Die Demokratie hat sich einen Helden herausgezählt, einen Helden für zehn Minuten.

Wichtiger als Minuten sind freilich Sekundenbruchteile und Erdzeitalter. Wer die 200 Meter Hürden um eine Zehntelsekunde schneller läuft als jemand vor ihm, der wird gefeiert und angehimmelt. Im übrigen wird sich vielleicht im nächsten Internationalen Geophysikalischen Jahr feststellen lassen, ob die Erde nicht doch um 500 Millionen Jahre jünger ist als man bisher dachte.

Der Mensch aber steht inmitten seiner Gigas und Mikros, greift freudig nach den fernsten Milchstraßen und zerquetscht die Kerne der „unteilbaren“ Atome. Er bereitet die Zeit vor für den Übermenschen, von dem Nietzsche und die comic strips — beide nach ihrer eigenen Weise — träumten und träumen. Dieser Übermensch wird dann vermutlich zwei Gigavolt groß sein, drei Picofarad wiegen und viermal zehn hoch minus 35 Kubikkilometer alt werden.

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