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Die Heilung der Besessenen

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Seit Jahrzehnten sitzt ein'Volk auf der Anklagebank der Weltgeschichte. Dies ist die heutige Situation des Volkes ohne Namen, des neuen Karthago, das, nachdem die beiden ersten punischen Kriege verloren sind, sich anschickt, unter Einsatz der letzten Kinder und Weiber in einem letzten dritten Krieg sich und die Welt gänzlich zu vernichten. Wer vermag dies Volk zu erlösen, wer vermag es vor einem neuen Rasen des Wahnsinns, einem letzten Amoklauf zurückzuhalten?

Es gibt keine Kollektivschuld. Diese ist ein barbarischer Begriff aus der Welt furchtbarer Heidengötter, eines fetischistischen Totemismus, der die Beseeltheit eines Stammes, eines ganzen Volkes mit einer Geist-Seele annimmt. Es gibt gerade deshalb aber auch keine Kollektiverlösung: nur der Einzelmensch besitzt eine Seele, ein Gewissen, ist und kann Träger letzter Verantwortung sein. Aus dem Großraum des Volkes ohne Namen ist uns nun ein Werk bekanntgeworden, welches diese Tat der Erlösung eines Besessenen aus dem Volke ohne Namen aufzeigt: „Der Kranz der Engel“ von Gertrud von Le Fort (München, erschienen als zweiter Teil des Werkes „Das Schweißtuch der Veronika“). Schauplatz: Heidelberg, nach dem ersten Weltkrieg. Hauptdarsteller: Veronika, ein junges Mädchen, aus Rom, aus dem Kloster kommend. Enzio, der Gespiele ihrer Kindheit, ihr Freund, dann Verlobter, ein hochbegabter Student, der aus dem verlorenen Krieg kommt, nur an die Macht glaubt und von der großen Zukunft des Volkes ohne Namen träumt. Sein Freund Staros-sow, ein ehemaliger Offizier, abgefallener Katholik, fanatischer Anhänger Enzios und seines neuen Glaubens. Starossow spricht das Ziel ihres Kampfes deutlich genug aus: Befreiung des Volkes ohne Namen von Gott, von Christus, weil dieser es nur schwäche in seinem Kampf ums Dasein: „Was künftig zu geschehen hat, wird ohne Liebe sein.“ Veronika, die katholische Christin, liebt Enzio. Dieser erwidert diese Liebe auf seine Weise, er haßt aber Christus als Nebenbuhler, als gefährlichen Feind — und er ist ein großer Hasser wie alle Besessenen. Er. der beste Schüler eines hervorragenden Wissenschaftlers, des Vormunds von Veronika, ist entschlossen, alles — Wissenschaft, objektive Werte, Kultur, Leben und Liebe der ihm teuersten Menschen — aufzuopfern für sein Ziel: die „Befreiung“ seines Volkes von seinen „Feinden“! Feind ist ihm aber jeder, der nicht wie er an die Macht allein glaubt. Deshalb sein erster furchtbarer Zusammenstoß mit dem „Professor“, mit Veronikas Vormund. Dieser Professor ist symbolhafte Verkörperung der Tragödie des liberal-humanistischen Bürgertums. Er ist bereit, mit wehenden Fahnen im Kampf um die heiligen Werte der Wissenschaft und Kultur unterzugehen, er vermag aber der aufsteigenden Barbarei keinen neuen Glauben entgegenzusetzen. Aus Tradition und aus tiefem Verantwortungsgefühl verteidigt er Enzios wütenden Angriffen gegenüber das Christentum; er gibt sich aber keiner Täuschung über die Wirkungslosigkeit seiner Defensive hin: „Die Abendröte verklärt nur, aber sie reift keine Früchte mehr. Die Ehrfurcht vor dem christlichen Glauben und das Wissen um die Tiefen dieses Glaubens kann den vollen Glauben niemals ersetzen.“

Veronika aber ist fest entschlossen, an der Seite Enzios auszuharren; sie sucht Rat und Zuflucht bei zwei Priestern. Diese vertreten zwei völlig verschiedene Methoden des Kampfes gegen „die ungeheure Macht des heutigen Unglaubens“. Der Heidelberger Dechant sieht die Rettung „im entschlossenen Widerstand und in der Selbstbewahrung“. Er empfiehlt Veronika deshalb die völlige Trennung von Enzio. Da dieser nicht in eine kirchliche Trauung einwilligt, verheißt er Veronika ihren Ausschluß aus der sakramentalen Gemeinschaft der Kirche!

Eine völlig andere Welt vertnn ihr römischer Berater, P. Angelo — zugleich die Stimme der Dichterin. Dieser meint, „wir müßten heute die vollkommene Liebesgemeinschaft mit den Ungläubigen eingehen, dann würden sie auch unserer Gnaden teilhaftig werden“. Angelo glaubt, daß „nur im Opfer der eigenen Sicherheit und im äußersten Wagnis der Liebe“, in der Teilhabe der Gläubigen an der Welt der Gottesferne diese letztere gerettet und erlöst werden kann. An der Seite der Gottlosen ausharren — bis in den eigenen Untergang hinein —, darin erfährt nun Veronika die hohe Berufung ihres Lebens. Sie erkennt, daß Gott gerade die Gottesfernen in Christus ; gesucht und geliebt hat und sie geht hin und opfert Leib und Seele für Enzio auf. Veronika läßt sich vom Sakrament der Kirche ausschließen und von Enzio zerbrechen. Tiefste Dunkelheit, Verlassenheit umfängt sie. Der ö 1 b e r g. Enzio überschlägt sich in einem Paroxismus des Hasses, der Leidenschaft, des Triumphes und — zerbricht. Am Krankenbett der gebrochenen Frau findet er Erlösung von den Dämonen. Das Opfer vollkommener Liebe hat ihn gerettet.

Dostojewskij sah in seinen größten Romanen nur Fragmente eines großen Werkes, in dem er den Weg Christi in Rußland, die Befreiung des russischen Volkes von seinen Dämonen schildern wollte. Der Roman Gertrud von Le Forts „Kranz der Engel“ nimmt dasselbe Anliegen für ihr Volk auf: der Schuldige wird, solange er schuldig ist, niemals seine Schuld eingestehen können — er ist ja von ihr besessen — er kann sich von seiner Schuld nicht trennen, weil er von ihr und in ihr lebt. Er kann sie deshalb auch gar nicht als Schuld sehen, einsehen. Die Schuldfrage kann deshalb nur der lösen, der den Schuldigen von seiner Schuld erlöst, durch die Tat einer kompromißlos sich selbst aufopfernden Liebe. Der mörderische Kreislauf des Hasses verzehrt weiterhin die Welt. Besessene opfern die Besessenen, treiben die Völker in Haß, Mord, Untergang Wo aber sind die Liebenden, welche an der Seite der Besessenen ausharren, um iene und sich selbst zu retten für eine neue Welt, für einen neuen Himmel und eine neue Erde im Zeichen desjenigen, der da sagt: „ ... das Frühere ist vorbei. . . Siehe, ich mache alles neu.“ (Apok. 21, 5.)

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