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Die Krise unserer Zeit

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In der „Revue de Paris“ vom September 1946 veröffentlichte Andre Maurois Tagebuchfragmente, in denen er sich über das Buch „Die Krise unserer Zeit“ von Sorokin, Professor der Soziologie an der Harvard-Universität, verbreitete. Mit Riesenschritten eilt die Zeit vorwärts, um mit ihren Ereignissen immer deutlicher darzutun, wie berechtigt es ist, von dieser Krise zu reden.

Sorokin stellt die These auf, daß unsere Zivilisation nicht auf dem Sterbebette liegt, sondern sich auf dem Wege der Umwandlung befindet, daß ähnliche Krisen seinerzeit in China, Indien, Ägypten, Judäa und Rom ohne unheilbare Katastrophen stattgefunden haben und das Übel das klassische Symptom des Überganges einer Zivilisationsform in die andere ist.

Nach Sorokin haben die Menschen im Laufe der Geschichte drei Hauptformen der Zivilisation gekannt. Er nennt die erste mit einem schwer übersetzbaren Namen „idea-tionell“; er will damit sagen: „von einer höheren, nicht erdgebundenen Idee bestimmt“. Dies war beispielsweise die Zivilisation des Mittelalters in Westeuropa. Die Menschen lebten, um ihr ewiges Heil vorzubereiten, und sahen die Stadt Gottes als die gewisseste Realität. Philosophie und Wissenschaft dienten dieser Gedankenwelt. Der König regierte auf Grund göttlichen Rechts; die Familie war unlöshar. Die Regeln wurden respektiert und der Egoismus wurde in Schranken gehalten, weil das Erdenleben als eine vorübergehende Pilgerschaft erschien.

Wie jede Form menschlicher Zivilisation sind auch die „ideationellen“ Kulturen nicht ewig. Alle sind nach einer längeren Periode des Abstieges abgelöst worden. Sie brachten zuerst Übergangsperioden hervor, die Sorokin „idealistische“ Zivilisationen nennt und Kompromisse zwischen Gott und Mammon sind. Dann kommt — und das klassische Beispiel davon ist die Renaissance — eine sensuelle“ oder „sensorielle“, also von der Sinnenwelt beherrschte und bestimmte Zivilisation, in vollkommener Reaktion gegen die ideationelle oder religiöse Zivilisation. Im 16. Jahrhundert (obwohl ein Glaube lebendig geblieben war) glaubt die Mehrheit der Menschen, daß ihr Königreich von dieser Welt sei. In der Theorie bleibt der Herrscher göttlichen Rechts; in der Tat aber regiert er durch die Gewalt. Nach und nach wird die Politik relativistisch. Ebensowenig wie die Wirtschaft, läßt sie absolute moralische Werte nicht gelten; sie verfolgt das größte irdische Glück vorerst einer Auslese, dann der Massen. Die Idee selbst der Wahrheit löst sich auf. Nichts verbindet die Menschen mehr. Die Scheidung zerstört die Familie. Die Kunst wird realistisch, satirisch. Der Künstler arbeitet nicht mehr für die höchste Glorie Gottes, sondern um sich auszudrücken und um zu gefallen. In der Leere, die der Geist gelassen hat, nistet sich die Gewalt ein. Das Unglück ist, daß die auf Gewalt gegründeten Zivilisationen schicksalhaft in Kampf und Zerstörung gehen. Nach einigen Jahrhunderten ist die sensorielle Zivilisation ihrerseits im Zustand der Krise.

Eine von der Moral getrennte Wissenschaft bringt Zerstörungsmittel hervor, die die Achtung vor der menschlichen Person nicht mehr kontrolliert, eine mehr und mehr sensuelle Kunst kann die Wahrheit nur in physischer und moralischer Häßlichkeit finden. Die Suche nach dem Wahren wird durch Propaganda ersetzt. Dekadenz oder Anarchie verbreiten einen unerträglichen Geruch; jeder absolute Wert fehlt.

Was wird also eintreten? Das Ende der Welt oder zumindest unserer Welt? Die Zerstörung der Welt, die Wells angekündigt hat? Dies irae, dies illa? Dies wäre möglich, wenn nichts käme, um das Gleichgewicht in den Seelen wiederherzustellen, aber Sorokin glaubt, daß «ier Prozeß, der schon so oft in der Geschichte der Menschen beobachtet wurde, sich neuerlich abspielen kann. Mit anderen Worten: die Menschheit würde zu einer ideationellen Kultur zurückkehren. Zuerst würde sie eine Übergangsperiode durchschreiten (wahrscheinlich die, in der wir leben), in deren Verlauf sich ein Graben zwischen den vollkommenen Zynikern (wie Hemmingway oder Erspin Caldwell) und den Neo-Mystikern (Huxley, Maritain) auf-cun würde. So bestand seinerzeit der De-kameron von Boccaccio zugleich mit den letzten Asketen des Mittelalters; so war Petronius der Zeitgenosse der ersten Christen und der Stoiker. Wir werden, sagt Sorokin, der endgültigen Zersetzung der sensoriellen Kultur beiwohnen, die immer mittelmäßigere Politiker, Gelehrte und Künstler hervorbringen wird, bis zu dem Augenblick, wo dieser erschreckende Mangel an .Menschen von Wert die Gesellschaft zwingen wird, Führer von einem anderen Typus zu suchen.

Da werden die Menschen von neuem begreifen, daß der Machiavellismus nur ein Verlegenheitsmittel ist, daß die Gesellschaften kein Rummelplatz für Razzien werden können, ohne sich zum Untergang zu verurteilen, und daß das eigensüchtige Suchen nach Glück zum allgemeinen Unglück führt. Da werden Individuen und dann Gruppen wiederum Systeme von supraindividuellenr und absoluten Werten ausbilden. So glaubt Sorokin an die Kassandren, die den Tod der Zivilisation verkünden, nicht mehr als an die Handlungsreisenden des Fortschritts durch die Wissenschaft. Er glaubt, daß wir an einer sozialen Krankheit von bekanntem Typus leiden, daß die Diagnose leicht und die Heilung möglich ist.

Aber nicht durch Heilmitte!, hervorgegangen aus den falschen Werten, die die primären Ursachen der Krise gewesen sind. Ohne Zweifel, sagt er, haben Nationalismus und Privateigentum aufgehört, nützlich zu sein, und bewirken heute wahrscheinlich mehr Übles als Gutes. Ohne Zweifel werden eine internationale Organisation und eine gerechtere Verteilung der Güter zu einer Lösung helfen. Nur können diese Maßnahmen durch sich selbst die Krise unserer Zeit nicht aufhalten, da sie nicht bis zur Wurzel des Übels gehen. In gewissen Ländern sind diese Linderungsmittel angewendet „worden, ohne daß die wesentlichen Probleme gelöst wurden. Die Besorgnis besteht weiter, wenn das Gift bleibt. Und welches ist das Gift? Es ist der Glaube an den Primat der Sinnenwelt, es ist die Geringschätzung des Reiches Gottes.

Unsere so unvollkommenen Sinnesorgane sind seit der Renaissance als oberste Schiedsrichter dafür genommen worden, was wirklich und was nicht wirklich ist, was einen Wert und was keinen hat. Das Resultat ist, daß die unendliche Realität auf einen ihrer Aspekte beschränkt und arm gemacht worden ist, daß die, Menschen sich freiwillig der göttlichen Gnade beraubt und aufgehört haben, ' die ihres göttlichen Gehalts entleerte Person zu achten. Was soll man also machen? Vor allem die wahre Natur dieser Krise erkennen, die eine Kulturkrise ist. Dann muß man erkennen, daß die mit Sinnen wahrnehmbare und wissenschaftliche Kultur nicht die einzige ist und daß für uns die Zeit gekommen ist, ihren Platz einem andern Aspekt der menschlichen Natur zu geben. Der Mensch ist nicht nur ein Organismus, sondern auch ein Träger absoluter Werte. Aus diesem Titel ist er geheiligt, was immer sein Alter, sein Geschlecht, seine Rasse, seine Farbe, seine Nation seien; wie Kant sagte: Die menschliche Natur muß als Ziel und nidit als Mittel genommen werden. Damit unsere Gesellschaften am Leben bleiben, sirrd große Veränderungen notwendig und sie müssen vor sich gehen im Sinne der Bergpredigt.

Krise — Prüfung — Läuterung — Gnade — Auferstehen, dies ist nach Sorokin der normale Verlauf der großen gesellschaftlichen Veränderungen. Wir kennen heute die Prüfung; trachten wir, die Gnade zu verdienen.

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