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Die Republik, die Vergangenheit und wir

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Die Worte aller Neujahrsbotschalten sind verhallt. Die Blätter, in denen sie abgedruckt wurden, werden bald Makulatur sein. Nur weiter, weiter! So will es das unerbittliche Gesetz einer raschlebigen Zeit. Neben den Gedanken Kardinal Königs verdient aber auch die Botschaft des Bundespräsidenten eine Bewahrung über die Stunde hinaus. Wie vor ihm in ihrem hohen Amt Renner und Körner so stieß nämlich auch Dr. Schärf mit seiner diesjährigen Neujahrsrede zu einer gerechten Schau österreichischer Geschichte vor, die jeder Österreicher guten Willens zu seiner eigenen machen kann:

„Am Anfang eines neuen Jahres ziemt es sich, an die Zukunft zu denken. Nun ist aber das, was wir in diesem Jahr erleben werden, doch ein Ergebnis dessen, was wir in früheren Jahren erlebt haben. Was damals Gegenwart und Zukunft war, ist heute schon Vergangenheit.

Wir Österreicher, junge und alte, haben es mit zwei Arten von Vergangenheit zu tun. Beide gehören uns und zu uns; wir mögen es wollen oder nicht.

Die eine Vergangenheit ist wesensgleich mit der Geschichte der alten Babenbergermark im äußersten Osten der westlichen Welt und mit der vielhundertjährigen Geschichte der Habsburgermonarchie. Diese Geschichte mit ihren Licht- und Schattenseiten, mit ihren militärischen, politischen und wirtschaftlichen Erfolgen und mit ihrem bitteren Elend, dem Hunger und der materiellen und geistigen Not breiter Volksschichten ist abgeschlossen.

Wir wären falsch beraten, wollten wir diesen, den weitaus größeren Teil unserer Geschichte vergessen. Im Gegenteil: wir sollten uns bemühen, ohne Voreingenommenheit und ohne Leidenschaft mit den Methoden moderner Geschichtsforschung die Wahrheit über diese lange Periode unserer Vergangenklarer zu ergründen, damit wir sie der Jugend richtig darzustellen vermögen.

Unsere andere Vergangenheit ist jünger. Ihr Bild steht daher weniger klar vor uns, und die Schüler und Schülerinnen wissen wenig davon. Aber auch diese Vergangenheit ist ein Stück unserer österreichischen Geschichte. Wir müssen nur den Mut aufbringen, dieser Vergangenheit auch ins Gesicht zu sehen. Vertuschen, verdrehen, verbergen nützt nichts. Die Jugend, die auch in Österreich gewohnt ist, die Tatsachen kühl und sachlich, ein wenig skeptisch und ohne jedes Pathos zu prüfen, würde uns Ältere nicht verstehen, wenn wir ihr ein historischpolitisches Theater vormachen wollten.

Was vor dreißig Jahren geschehen ist, ist geschehen. An den Österreichern, die das Entsetzliche erlebt haben — und nur an ihnen —, liegt es, die Zusammenhänge klarzulegen und dafür zu sorgen, daß sich das Furchtbare niemals wiederholen kann. Mit dieser österreichischen Vergangenheit müssen und werden die geborenen Österreicher fertigwerden, die sie selbst erlebt haben.

Am Beginn dieses neuen Jahres sollten tuir uns dessen bewußt sein, daß der Weg unseres neuen Österreich, unseres teuren Vaterlandes und unserer lieben Heimat mitten hindurchführt zwischen Hochmut und Kleinmut. Unsere Ahnen haben für Europa viel geleistet. Unsere Eltern, unsere Großeltern und wir selbst haben Idealen nachgestrebt, die uns wertvoll erschienen. Wir haben vieles erreicht, und wir sind manchmal in die Irre gegangen. Nehmen wir uns vor, gute Österreicher zu werden, zu sein und zu bleiben!“

Die Republik und die österreichische Vergangenheit sind keine Gegensätze. Nein, ganz im Gegenteil: dieser Baum hat alte, starke Wurzeln. Wenn wieder einmal einer aulsteht und es anders behauptet, so sind wir dankbar, ihn künftig durch Bundespräsident Dr. Schärl belehren lassen'iükönnen.—

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