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Freiheit als Selbstzweck ist unfruchtbar oder tödlich

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Die prophetischen Gedanken des Philosophen Eugen Rosenstock-Huessy ruft ein jüngst erschienenes Heft in Erinnerung.

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Die prophetischen Gedanken des Philosophen Eugen Rosenstock-Huessy ruft ein jüngst erschienenes Heft in Erinnerung.

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Der Fluch des modernen Menschen ist (...) der, immer unverbindlicher zu werden aus Angst, sich in irgendeine Sache zu weit einzulassen. Er will immer sicher gehen, stets eine minimale Haltung einnehmen und nie nach einer Seite hin handeln, ohne sich nicht vorher mit einem verstohlenen Blick auf die andere Seite zu vergewissern. (Diese Mentalität)... lädt uns in eine Zukunft ein, in der alle Energien, die unser eigenes Dasein möglich gemacht haben, abgekühlt sind.”

Ein beunruhigendes Phänomen, das Eugen Bosenstock-Huessy schon vor fünfzig Jahren in seinem Buch „Des Christen Zukunft” aufgezeigt hat. Beunruhigender noch ist es zu sehen, daß diese Zukunft schon Gegenwart geworden ist: die Weigerung zu investieren, etwas von sich zu geben (zum Beispiel seine Wählerstimme), gar sich selbst zu geben (zum Beispiel in Form eines Eheversprechens) wird immer größer, und das in einer Zeit, in der die Freiheit zu den obersten Errungenschaften und Geboten zählt.

Womöglich ist genau dieser absolute Anspruch die Ursache des heutigen Dilemmas: Freiheit, als Selbstzweck genommen, ist unfruchtbar, ja, letzten Endes tödlich. Sie ist nicht ein Ort, an dem wir ausruhen können, sondern vielmehr Ausgangspunkt oder, um mit Martin Buber zu sprechen, „der fruchtbare Nullpunkt”, „der Anlauf zum Sprung”. In einer Welt, in der „das Sprungbrett als Ziel und ein funktionelles Gut als substantielles behandelt wird”, zählt um-somehr der persönliche verantwortliche Umgang mit der Freiheit.

Die Auswirkungen der ungenutzten, brachliegenden Freiheit zeigen sich für Eugen Rosenstock-Huessy im Entstehen einer sogenannten „Mentalität” - sie ist „das, was von der Seele übrigbleibt, wenn man die kreuzigenden Erlebnisse, die in kräftigeren und lebendigeren menschlichen Beziehungen ihre Frucht tragen, ausläßt”. Sie kennt keine Extreme mehr, weder Lachen noch Weinen, weder Ja noch Nein.

Auf unser Sprechen bezogen bedeutet dies, daß Lehren und Predigen zu „bloßer Wortklauberei” wird, denn „die Mentalität entmannt das Wort”. Auch die Kirche hat dieses Erbe schon angetreten. Die Sprache hat ihre Wirkmächtigkeit verloren, Predigten „greifen” nicht mehr, der Geist weht nicht mehr, zumindest - so Rosenstock-Huessy ^ nicht mehr mit derselben Garantie wie früher, als der Satz „Extra ecclesiam nulla salus” noch nicht widerlegt war. Dieses Dik-tum wandelt Rosenstock ab in „Extra crucem nulla ecclesia”, außerhalb des Kreuzes gibt es keine Kirche. Damit erteilt er allem, was sich im Christentum an bloßer Überlieferung festhält, eine radikale Absage und fordert gleichzeitig heraus zu einem radikalen Christentum.

Das Kreuz bedeutet für ihn nicht zuletzt das Kreuz der Wirklichkeit. Erst eine Annahme dieses Kreuzes garantiert ein Leben als „Zeitgenosse”. Zeitgenosse sein im Sinne Rosenstocks aber bedeutet, seine Freiheit zu nutzen und sich nicht einfach mit ihr zu begnügen, und es bedeutet vor allem, wider den Zeitgeist zu sein.

Eine der unmittelbarsten Erscheinungsformen des heutigen Zeitgeistes - und das konnte Rosenstock-Huessy wohl nur ahnen - sind die Medien. Wir können sterbende Kinder aus Afrika im Wohnzimmer via Fernsehen „erleben” und den Tod des Nachbarn darüber versäumen. Im Bann der Weltereignisse besteht die Gefahr, daß wir auf unsere „eigene Zeit”, auf

das je eigene Denken, Handeln, Sein, vergessen, ja, daß sie uns gleichsam sanft entzogen wird.

Eugen Bosenstock-Huessys mahnende Stimme, Zeitgenosse zu sein und nicht Zuschauer der eigenen Wirklichkeit, kommt nicht von ungefähr.

1888 in Berlin geboren, war er zunächst im Universitätsmilieu beheimatet (er habilitierte sich in Jus und Soziologie). Immer beschäftigten den Denker, der sich mit 18 Jahren evangelisch taufen ließ, Fragen der Religion und Philosophie. Ein Briefwechsel mit Franz Rosenzweig zum

Thema „Christentum und Judentum” gibt davon Zeugnis.

Als er nach Ende des Ersten Weltkriegs nahezu zum gleichen Zeitpunkt drei attraktive Berufsangebote (Staatssekretär, Universitätsprofessor, Mit-Herausgeber der katholischen Zeitschrift „Hochland”) bekam, lehnte er alle drei gleichermaßen ab. Zu sehr hatte ihm der Krieg, den er als Frontkämpfer miterlebt hatte, die Zerstörung der ganzen Zivilisation vor Augen geführt, als daß er nun un-verrichteterweise in irgendeine „Disziplin” zurückkehren wollte. Es drängte ihn danach, die Bereiche Politik, Wissenschaft und Religion zu integrieren sowie Basisarbeit zum Aufbau der Zivilisation zu betreiben. Deswegen widmete er sich zunächst der Arbeiterfrage; dabei organisierte er unter anderem Arbeitscamps für Studenten, Bauern und Arbeiter.

Daneben publizierte er unentwegt zu Zeitfragen. Nahezu erschreckend hellsichtige politische Analysen aus den Jahren vor der Machtergreifung Hitlers wurden beispielsweise in der Zeitschrift „Hochland” abgedruckt. Das Jahr 1933 zwang ihn zur Emigration in die USA, wo er seine publizistische Tätigkeit fortsetzte, aber auch lehrte und weiterhin Arbeitscamps organisierte. Als er im Jahr 1973 starb, hinterließ er mit seinen Schriften zu Politik, Soziologie, Kirchengeschichte und Theologie ein unruhiges, pulsierendes Vermächtnis.

Literatur:

Eugen Rosenstock-Huessy, hg. von Franz Böckelmann, Dietmar Kamper und Walter Seitter, Wien, Turia & Kant 1995. (Tumult- Schriften zur Verkehrswissenschaft. Nr. 20:)

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