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Groß und unbekannt
Rudolf Kassner, geboren 1873 in Groß-Pawlowitz, Mähren, gestorben 1959 in Sierre, Kanton Wallis (Schweiz), gehört der Generation der großen Erneuerer der deutschen Dichtung an und war mit Altersgenossen wie Hofmannsthal und Rilke in naher Freundschaft verbunden. Daß er, der Denker und Deuter, ihres Ranges sei, haben beide Dichter schon früh bezeugt. Hofmannsthal erkannte in ihm 1904 „die Möglichkeit des bedeutendsten Kulturschriftstellers, den wir ln Deutschland je hatten“ und nannte ihn „eine höchst seltene, von einem heroischen Glanz umwitterte Persönlichkeit“. Rilke bezeichnete ihn 1911 als „vielleicht den wichtigsten von uns allen Schreibenden und Aussprechenden“. Ihn mit einem Schlagwort zu kennzeichnen, ist kaum möglich, da weder
Dichter noch Denker, weder Essayist noch Kulturkritaker zutrifft. Er selbst nennt sein Weltbild und seine Deutekunst eine universale Physiognomik. Ihre Gegenstände reichen von der griechisch-römischen Antike bis weit hinüber in den Orient, nach Indien, China und Japan; sie entstammen vielen Epochen der Geschichte, vielen Gegenden der Erde, doch vollzieht sich im Werke zugleich eine stetige Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart.
Die mit dem Jahr 1900 einsetzenden und über sechs Jahrzehnte reichenden Bücher enthalten kritische, darstellende und deutende Aufsätze, Imaginäre Gespräche, parabolische Erzählungen, weitausgreifende Abhandlungen, Reden und Dialoge, Gleichnisse und Aphorismen, dazu aus den späteren Jahrzehnten eine Fülle von Erinnerungen, Die innere Form der Sehweise, die darin zum Ausdruck kommt, Ist ebenso unab- teitbar wie die persönliche Sprache, der unverwechselbar eig ieTon dieser Prosa, der von Anfang an völlig ausgeprägt da ist. Die frühesten Werke — ein jedes einem neuen Bereich gewidmet und dem Stoff nach wie in der Darstellungsweise stets Überraschend — wurzeln im dichterischen „Jugendstil“ der Jahrhundertwende, den sie in bedeutendem Maße repräsentieren. Diese erste, bis 1908 reichende Schaffensepoche wird von einer zweiten, die Jahrzehnte bis 1938 umfassenden,
abgelöst; esfo’ die letzte Schrüns- stufe der Kriegs- und Nachkriegs jahre bis 1959. Nur die Werke der dritten Epoche sind dem heutigen Leser im allgemeinen noch zugänglich; alles früher Erschienene ist seit Jahrzehnten vergriffen, die Bücher, die das Jugendw’rk ausmachen, bis zur völligen Unauffindbarkeit. Es gilt darum, ein halbverschollenes Werk wieder ans Licht zu heben. Die geplante Gesamtausgabe in sechs Bänden wird jeder der von Kassner selbst bezeichneten drei Schaffensepochen zwei Bände widmen. Das Frühwerk wird in ursprünglicher Gestalt vorgelegt. Da Kassner die Schriften seiner Jugend später völlig umgearbedtet und rücksichtslos gekürzt hat, wird mit den Urfassungen eine Gruppe von heute so gut wie unbekannten Texten zutage treten. Die geistige Hinterlassenschaft jener Generation der Hofmannsthal, George und Rilke wird in ihrer ganzen Bedeutung und ihrem Reichtum erst dann zu ermessen sein, wenn das Werk dieses seherischen Denkers und Deuters wieder unserer Gegenwart zum Bewußtsein gekommen ist.
ERNST ZINN
Der I. Band der Gesamtausgabe, die im Verlag Günther Neske, Pfullingen, erscheint, wurde am 4. November durch die Rudolf-Kassner-Gesellschaft vorgestellt. Er enthält die folgenden Studien und Essays aus Kassners erster Epoche (1895—1909): Die Mystik, die Künstler und das Leben (ursprüngliche Fassung des Buches „Englische Dichter“) — Der Tod und die Maske — Der indische Idealismus — Die Moral der Musik.
Der II. Band wird die folgenden Beiträge vereinigen: Motive und
Essays von 1906 — Denis Diderot — Melancholia Eine Trilogie des Geistes — Verstreut Gedrucktes aus den Jahren 1895—1909.
Die weiteren Bände sollen im Abstand von etwa je zwei Jahren erscheinen. Der Plan der von Univ.- Prof. Dr. Emst Zinn betreuten Ge samtausgabe sieht insgesamt sechs Bände vor.
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