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KASSNER NEU ZIJ BEGEGNEN ...

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1924 schreibt Hofmannsthal über Kassners Werk: „Alles trägt das Gepräge einer höchst seltenen, von einem heroischen Glanz umwitterten Persönlichkeit“; ebenso 1929, kurz vor seinem eigenen Tode: „Eine spätere, wenngleich nicht ferne Zeit wird mit Staunen feststellen, daß von unserer nach neuen Inhalten und neuen Formen so begierigen Zeit so neue Inhalte in so neuen Formen unbeachtet bleiben konnten.“ 1966 schreibt ein japanischer Germanist aus Tokio: „Ich übersetzte Kassners ,Das physiognomische Weltbild“, das meine Sehweise tief beeinflußte. Mein Hauptinteresse liegt auf dem Problem des Ästhetisch-Religiösen des Menschen in dieser Zeit. Ich habe diese Blickrichtung von Kassner gewonnen. Ich möchte wissen, ob eine Gesamtausgabe erscheinen wird und wenn ja, wann sie uns zugänglich wäre.“ Ein Student der Mathematik und theoretischen Physik aus Leiden, Holland, schreibt 1967: „Seit ich das Kapitel .Rudolf Kassner et la grandeur humaine“ im Buche Denis de Rougemonts ,Comme toi-meme“ gelesen habe, hat diese Figur nicht aufgehört mich zu interessieren. Leider sind seine Werke fast nicht zu bekommen.“

Es sieht so aus, als ob Hofmannsthals „spätere, wenngleich nicht ferne Zeit“ eingetroffen wäre und sich von den merkwürdigen, deutenden, erleuchtenden und doch beunruhigend hermetischen Konfigurationen, Strukturen, Problemfeldern, Parabeln und Traktaten des Kassnerschen Werkes, von seiner akausalen, imaginativen Logik Faszination und Bereicherung verspräche. Kassner selbst läßt nicht im unklaren darüber, daß er kein System, sondern eher einen geistigen Weg im Sinne Dantes anzubieten habe, wenn er sein rund 60 Bände umfassendes Oeuvre in drei Epochen gliedert, in denen jeweils Themen der Ästhetik, der Physiognomik und einer physiognomischen Kultur- und Religionsphilosophie dominant werden. Diese Dreiteilung konnte auch zur Grundlage von ersten Spekulationen um eine Gesamtausgabe werden, die in der 1961 in Wien gegründeten Rudolf-Kassner- Gesellschaft angestellt wurden. Unterrichtsministerium und Nationalbibliothek (die den Kassner-Nachlaß verwahrt) zeigten sich interessiert, der Philologe Ernst Zinn aus Tübingen, Herausgeber der Werke Rilkes im Insel-Verlag und persönlicher Freund Kassners, bot seine Mitarbeit an, eine Koproduktion der Verlage Insel und Rentsch schien gewährleistet. Ein Redaktionskomiteę unter den Professoren Emst Zinn und Leo Gabriel tagte zweimal. Die ungünstiger werdenden wirtschaftlichen Verhältnisse und eine Reihe struktureller Änderungen machten neue Bemühungen in anderer Richtung notwendig, es wurde auch vergeblich versucht, österreichische Verlage zu interessieren.

Die nunmehr geglückte Konturierung sieht vor: eine Herausgeberschaft und teilweise Finanzierung durch die Wiener Kassner-Gesellschaft, die wissenschaftliche Leitung durch Prof. Zinn, Tübingen, die Produktion durch den Neske-Ver- lag, Pfullingen. Dargeboten wird eine reine Werksausgabe in sechs Bänden, philologisch gesichert und chronologisch geordnet. Die Bände I und II werden das Frühwerk enthalten, von der ersten grüblerischen Skizze des 22jährigen Studenten, „Sonnengnade“, über das Werk, das den Ruhm des jungen Autors begründete, „Die Mystik, die Künstler und das Leben“, über „Der Tod und die Maske““, „Die Moral der Musik“ bis zu den Essays und Dialogen „Melancholia“ von 1908. Diesen umfangreichen Publikationen werden gleichzeitige Aufsätze und Übersetzungen (soweit eruierbar) angegliedert. Die Bände III und IV sollen die Werke des physiognomischen Problemkreises enthalten, darunter das frühe Hauptwerk „Von den Elementen der menschlichen Größe“, „Zahl und Gesicht“, dem jahrelange mathematisch-physikalische Studien vorausgingen, „Das physiognomische Weltbild“ und „Der Gottmensch“, letzteres erschienen im Jahre 1938. Nach der Zäsur des zweiten Weltkrieges, in dem Kassner Publikationsverbot hatte, kam er 1945 als Gast einer Schweizer kul-

turellen Stiftung nach Sierre im Rhönetal, wo er, von Freunden und einem verständnisvollen Verleger wohl betreut, eine Reihe autobiographischer und philosophisch-mystischer Alterswerke schuf, die in Band V und VI versammelt werden sollen. In diesen letzten Werken geht es dem im achten und neunten Lebensjahrzehnt Stehenden um prinzipielle und existenzielle Ordnungen, um Zuördnung und Abgrenzung der großen antiken, christlichen und asiatischen Gedankenströme, die er, Synoptikos wie noch kaum irgendein anderer vor ihm oder neben ihm, von der Warte einer „All-Einheit“ her sieht, erspürt, erlebt. Alles Begriffhafte und Starre des Wortes verglüht ihm zu reiner Anschauung, höchste Instanz wird ihm der „Gottmensch“, mit dem „das Wort Fleisch geworden“ ist.

Wenn Band I der völlig vergriffenen Frühschriften 1969 vorgelegt wird und wenn (wie geplant) 1979 das Gesamtwerk es ermöglichen wird, Kassner neu zu begegnen, dann wird die literarisch, philosophisch und religiös interessierte Welt einen neuen „Wundermann aus dem alten Österreich“ zu entdecken haben.

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