6689916-1962_33_04.jpg
Digital In Arbeit

HERMANN HESSE / DICHTER EUROPÄISCHER BEWUSSTSEINSKRISE

Werbung
Werbung
Werbung

Ob es verfrüht ist, in diesen Tagen, da Hermann Hesse am 9. August in seiner Wahlheimat Montagnola im Tessin als Fünfundachtzigjähriger starb, endgültig nach Sinn und Dauer seines Lebenswerkes zu fragen? Das Gros der Nachrufe schwankt unsicher zwischen geziemendem Respekt für den letzten Recken jener deutschen Literatur, deren Wurzeln etliche bis zu Goethe, bis zur Romantik, und auch wieder ins Nährgelände des Expressionismus reichen, und der verschämt angemerkten Tatsache, dies oder jenes Werk sei „auch heute noch erstaunlich modern“, ohne daran vorbeizugehen, daß die geistigen Brücken vom Dichter zur Nachkriegsjugend unserer Tage rar sind, im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit, als die Serie der Romane vom „Peter Camenzind“ bis zu „Siddharta“ fühlbar die geistige Welt der deutschsprachigen Jugend beeinflußten.

Hesse, in Calw in Württemberg geboren, atmete als Knabe protestantisch-pietistische Luft, doch ist in ihm zuviel Unruhe, als daß er es auf dem theologischen Seminar zu Maulbronn ausgehalten hätte, als Nonkonformist zieht er es vor, einfache Berufe zu ergreifen, wird schließlich Buchhändler und Antiquar, damit die materielle Basis für den ersten Teil seiner schriftstellerischen Arbeit, geistig unabhängig und niemand verpflichtet, zu schaffen. Von seinem „Peter Camenzind“, der 1904 erschien und zum ersten Erfolg wurde, als ein Buch, das, wenn auch stilistisch unter dem Einfluß Kellers, geistig weitgehend selbständig, Grundfragen der menschlichen Erziehung und Entwicklung behandelt, bis zum letzten umfangreichen Werk, das zugleich den Höhepunkt seines Schaffens markiert, dem Bildungsroman „Das Glasperlenspiel“ (1943), geht eine einheitliche Linie des Suchens und Fragens nach Form und Ziel des irdischen Lebens durch sein Werk.

Nie darnach strebend, einer Mode oder einer Macht gefällig zu sein, wird in Hesse die europäische Bewußtseinskrise seiner und unserer Zeit einen ihrer redlichsten Chronisten und unmißverständlichsten Dichter finden. Daß er den Bogen seiner Sehnsucht nach Erlösung und Selbstbefreiung stets über polare Gegensätze hinweg und bis nach Indien, bis zu Buddha zu spannen versucht, führt bei ihm nicht, wie bei so vielen anderen Zeitgenossen, in den Wirrwarr heilloser Spekulationen, Er denkt zu präzise und selektiv, als daß er ein Anhänger vager Vermischungen sein könnte. Er läßt die Dinge, ob es sich um heterogene Wirkkräfte in seinen „pädagogischen Provinzen“ oder um den seelischen Weg eines jungen Menschen zwischen Geist und Trieb handelt, sauber für sich stehen, ohne sie zu vergewaltigen, und trachtet lieber, hinter die Bedeutung der einzelnen Phänomene zu kommen.

Zum Schrecken und Abscheu aller Simplificateure, die ungern mit flexiblen Größen und komplizierten Inhalten arbeiten, schaut er die Menschenseele nicht als etwas wie ein überall gleichartiges metaphysisches Gelee, sondern als das am schwierigsten zu durchschauende Rätsel, dem er sein Lebenswerk widmet. Dies tut er kühn und unerschrocken — und damit, daß Materialismus und Positivismus für ihn keine Versuchungen darstellen, steht er gleichsam mit gespreizten Beinen über einer Kluft, wurzelt er ebenso in der fortlaufenden Kette der Traditionen wie, in seinem unpathetischen Scharfsinn durch und durch modern, im Heute, verbindet er Kontinente des Geistes, die ohne Männer wie ihn isoliert nebeneinander her durch das Meer der Geschichte trieben.

Als er, 1946, als bisher letzter Deutscher den Nobelpreis erhielt, wurde damit nicht so sehr der überlegene Gegner jeden Zwanges, jeder totalitären Bestrebung geehrt, denn dies versteht sich bei seinem Rang von selbst, als vielmehr der eigenständige, zutiefst redliche Dichter, dessen Wirkkraft, und dies ist die Antwort auf die Eingangsfrage, auf die kommenden Generationen noch längst nicht abschätzbar ist. j. a b.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung