7110570-1995_48_39.jpg
Digital In Arbeit

Identität und Wahrheit

Werbung
Werbung
Werbung

Die Historiker proben den Aufstand. Denn längst werden von ihnen statt der Geschichtsbilder für Schul- und Fotobücher Antworten auf die österreichische Identität verlangt. Herr und Frau Österreicher möchten Antwort auf die Fragen: Wer will mich? Wer bin ich? Ein Opfer oder ein Täter?

Die Historiker sind honorige Leute und graben auch in der jüngeren Vergangenheit mit dem Spaten der Wissenschaft. Das braucht seine Zeit. Und nicht jeder Fund läßt sich wie ein Grabungshorizont gleich auf eine' ganze Schicht anwenden. Opfer oder Täter, Unschuld oder Schuld sind persönliche Gewissensentscheidungen, die sich seriös nicht so ohne weiteres verallgemeinern lassen. Das macht die Arbeit der Historiker schwierig und verantwortungsvoll. Moralische Urteile und Forderungen abzugeben hat die apologetisch arbeitende Zunft nicht so leicht auf der Zunge, zumal wenn es sich um Widersprüche zum bisher Gesagten handelt.

Die österreichische Literatur, sonst und bisher von der Gunst des Publikums nicht verwöhnt, hat mittlerweile entdeckt, daß es ganz leicht ist, die Historiker links zu überholen. Die Phantasie ist keine Wissenschaft. Die Kunst darf alles und muß nichts. Frei wie also Pegasus ist, galoppierte er in den zeithistorischen Acker, auf dem sich die Historiker mühsam abplagen. Das Wort von der Lebenslüge, von Historikern vorsichtig gebraucht, wurde zur poetischen Vokabel. Und zündete und zündelte. Ein Volk von gramgebeugten und im zähen Wiederaufbau geprüften Opfern wurde zum vergeblich von den Alliierten umerzogenen Täter-Clan, der seinen latenten Haß gegen alles Andersartige nicht überwunden hat und neuerdings wieder üppig sprießen läßt.

Das Furchtbare ist: Die Dichter mit ihrer Ahnung, mit ihrer Witterung für ein geistiges Klima, haben sogar recht. Es vergeht ja hierzulande kein Tag, an dem nicht die Praxis bestätigt, was die Dichter in freier Utopie vorher erzählt haben. Ihre Sprache ist kein Geniestreich, aber sie haben die Wirklichkeit vorausgebucht.

Weil Identität eben nicht bloß Festhalten am Staatsvertrag und an der Neutralität, Glaube an die Zugehörigkeit zu einer Nation, sondern ein sehr komplexes Gefühlsbündel des Selbstverständnisses ist, können die Dichter den Historikern leicht vorauseilen. Da werden dann selbst jene stutzig, die ehedem die Nation für eine Mißgeburt hielten. Es ist das Verdienst des österreichischen Literatur-Furors, die Gegenbewegung des neuen Österreichertums bei den Deutschtümlern ausgelöst zu haben. Kein Pendel ohne Gegenschlag, kein Täter-Roman ohne Auferstehung der redlichem Opfer-Österreicher!

Doch Vorsicht, liebe Historiker und Dichter! Weder die goldenen noch die dämonischen Gründungsmythen sind auf Seiten der Wahrheit! Schon ertönen die warnenden Stimmen. Es geht nicht darum, den Romanen und Dramen Verifizierend nachzulaufen. Oder die eine Lüge durch eine andere zu ersetzen.

Die Annahmen der Moskauer Deklaration und die geschickte Taktik von Figl und Raab in Ehren! Wir haben uns da ganz schön durchgeschwindelt. Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein! Nur daß heutzutage die Hälfte aller Österreicher Nazis sind, das relativiert sich an nicht zuletzt derselben Hälfte, die Menschlichkeit für Flüchtlinge fordert und übt. Wir sind ein ambivalenter Menschenschlag.

Die Subversion ist ein nicht unwesentlicher Teil unserer Identität.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung