Leben sehen wie ein Vogel

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Nikolaus Glattauers zweiter Roman: ein düsteres Bild des Jahres 2084.

Nikolaus Glattauer legt mit "Im Vogelblick" seinen zweiten Roman vor, eine Utopie in der Tradition von Orwell und Huxley, worin ein düsteres Bild des Jahres 2084 gezeichnet wird, dessen Düsternis freilich - wie in diesem Genre üblich - von Entwicklungen herrührt, die sich heute gesellschaftlich abzeichnen.

Die Grundidee dabei ist die Beherrschung des Menschen durch sein Sehen - bei Huxley u. a. durch Konditionierung, bei Orwell durch Propaganda, bei Glattauer nun durch Sehbehelfe, die beim Sehen doch nicht nur helfen: "Mit den Augen fressen wir schon, was sie uns vorwerfen." Analog wird statt einem Neusprech "Nullspeek" verwendet, um die Artikulationsfähigkeit weiter Bevölkerungsteile gelinde gesagt überschaubar zu halten ... Die Bevölkerung ist längst in Nicht-mehr-Individuen zerfallen, die über ihren Marktwert (und das heißt konkret: ihre Intelligenz, "zehn Einsteins" sollte man schon vorweisen können) definiert werden.

Zehn Einsteins

Alles ändert sich, als die Sehbehelfe der Menschen, deren Bulbi durch Eye-Chips (natürlich im Gehirn implantiert) unterstützt werden, durch Viren infiziert werden - das ist Katastrophe und Rettung zugleich, wie schon Herta Müller zeigte, als sie, freilich viel konkreter und auch beeindruckender, den "fremden Blick" beschrieb, einen aus Entfremdung scharf gewordenen Wahrnehmungssinn, der "nichtige Dinge mit wichtigen Schatten" zu sehen gelernt hat.

In die unheile Welt Glattauers wird die Chinesin Suzie Wang eingeführt, die vermeintlich blind ist - wie es sich für Sehergestalten gehört, die ja oftmals blind scheinen, es aber auf ihre Weise gerade nicht sind.

In der Folge geht es um den Blick, der "aus der Zeit gefallen ist", einen Blick aus fremden Augen, "den Augen der Krähe": Einst "legte mir [...] eine Krähe ihre Augen in die Höhlen. Für die Menschen war ich blind geworden, doch ich lernte mit den Augen der Krähe neu zu sehen. Ich lernte das Leben zu sehen wie ein Vogel: von oben, im Zusammenhang, das Leben aus sicherer Entfernung." Dieses Bild ist freilich wunderbar, zumal es einem Wortspiel entspringt, Krähenaugen bezeichnen, so der Epilog, die "Brechnuss", deren "Genuss [...] bewirkt eine Erregbarkeit selbst höherer Zentren im Gehirn; die Wahrnehmung von Sinneseindrücken wird verschärft; [...] das Gesichtsfeld wird vergrößert."

Diesen Blick könnte man als den des Poeten bezeichnen, als dessen Prototyp Glattauer Shakespeare einführt: "Verflucht, wer ihn ehrt, den Stein. Gesegnet, wer rührt am vergessenen Gebein" - diese Passage auf Seite 146 ist sozusagen der Schlüssel zu einer lebendigeren Betrachtung, die sich dem universellen Unheil hier entgegenstemmen kann; Huxley war weniger optimistisch, bei ihm ist authentische Kultur machtlos, jene aber, mit der sozusagen kultiviert umgegangen wird, damit korrumpiert und kein Impetus mehr.

So optimistisch ist dann aber auch Glattauer nicht, das erste Kapitel ist mit 1/11 überschrieben, es folgt die erwartungsgemäße Numerierung bis zur 9/11, die nicht ganz originell das Ende der Geschichte einläutet.

Die Kapitelzählung wird aber verschiedentlich unterbrochen. "Eine schicksalhafte Begegnung" ist das Kapitel nach 7/11 überschrieben - die Begegnung wendet nichts ab, doch dann im Aufschub und der neuen Art des Wahrnehmens gerade jener Momente doch alles. - In seinem letzten großen Interview hat Derrida gesagt, wir alle seien "Überlebende mit einer Aufschubfrist".

Verdrängte Bilder

Das und nicht so sehr die Perspektive eines Terroristen, der sich Shakespeare nennt und den Menschen mittels Virus ihre "verdrängten Bilder vor die Augen setzt", ist die Minimalutopie gegen die großen utopischen Szenarien Glattauers. Die sind wie die vorsichtig formulierte Antithese eindrücklich, wenngleich in manchem Reprise von bereits Gesagtem; eindrücklicher wären sie, wäre der Text etwas ökonomischer erzählt und manches konkreter - da ist auch die zeitliche Distanz vielleicht zu weit gewählt.

Zugleich ist der Vorgriff auf Kommendes fast zu gegenwartsbezogen, die Phantasie, dass 2008 Terroristen Wien mit Raketen zerstören, worauf nach zehn "NullJahren" ein Kreuzzug samt neuer Zeitrechnung beginnt, ist beispielsweise irgendwo zwischen Asimov und Dada steckengeblieben, zumal manches ironischer zu gestalten gewesen wäre.

In Summe ist Glattauers Vision keinesfalls misslungen, manches aber ist altbacken darin, einige Bilder und Formulierungen sind glänzend, aber auch Leerläufe finden sich. Der Roman ist kurzum sozusagen interessantes Mittelmaß.

Im Vogelblick

Roman von Nikolaus Glattauer

Picus Verlag, Wien 2005

269 Seiten, geb., e 21,90

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