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„Manon“ und der französische Film

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Ein Franzose hat den Film erfunden. Die ersten Kunstfilme waren französische.

Diese Feststellung an der Spitze einer Würdigung der jüngsten „Festwoche des französischen Films in Wien“ schließt die Frage ein, wieweit der französische Film von heute die große Tradition fortsetzt und den geistigen Anforderungen unserer Tage entspricht. Eine letzte Antwort darauf hat die Festwoche nicht gegeben. Das mag vor allem daran liegen, daß sich bei aller Anerkennung des Niveaus unter den vorgeführten Filmen nur e i n repräsentativer von europäischem Format befand — dieser zugleich der schwierigste und heftigst umstrittene, nicht nur der Festwoche, sondern vielleicht des gesamten Nachkriegsfilmschaffens: Henry-George Clouzots

„M ano n“. Sein ungewöhnlicher Weg durch Europa zeigt die ganze Problematik des Werkes auf: Grand Prix der Biennale 1949 — heftige Ablehnung (besonders durch katholische Jugendkreise) in Frankreich; Verbot in England — starker Beifall bei der Festwochenaufführung in Wien. Woher kommt das? Abbe Prevosts Motiv: Verirrung, Läuterung und Tod der Manon Lescaut, hat der Existenzialist unter Frankreichs Filmregisseuren in den heftigen Rhythmus unserer Zeit übertragen, unerbittlich, düster und niederdrückend, vom Partisanenkrieg über die Befreiung von Paris 1944, den Hexensabbath der Schieber und Dunkelmänner mit Mord, Korruption der Befreiungsarmee und Bordellschmutz bis zum tragischen Tod Manons und ihres Geliebten mit einem Haufen deutscher Judenflüchtlinge in der gnadenlosen Wüste von Algerien. Höchster künstlerischer Realismus — ja. Erschütterung — ja, zutiefst. Aber Läuterung? Katharsis? Nein. Hier ist der kritische Punkt; die künstlerische Höhe des französischen Films und zugleich seine eminente Gefahr: der Weg ins Nichts.

Nicht ganz so problematisch gaben sich die anderen Filme. Mit Zeitproblemen befassen sich der Bergwerksfilm „Le Point du Jour“, der Kolonialfilm „Les Paysans Noirs“ und der Luftfahrtfilm „Au Grand Balcon“. Eine thematische Mittelstellung nehmen der Kriminalfilm „Entre Gnze Heures et Minuit“, das Dorf-Genrebild „Jour de Fete“, das Farbmärchen „Alice au Pays des Merveilles“ und die prätenziöse Komödie „La Vie en Rose“ ein. Im letzten Drittel einer zeitlosen, zeitfremden L’art pour l’art-Geistigkeit stecken „Le Roi“, „Rendez-vous de Juillet“ und „Occupe-toi d’Amelie“. — Dabei konnte festgestellt werden: Themenbuntheit, Athmo- sphäre, hervorragende Kamerakunst und realistisches Spiel sind nach wie vor die Tugenden der französischen Filmkunst, ein Hang zu ermüdender Breite, zu pikanten Stoffen und Stilspielereien die Untugenden. Hohe Anerkennung fanden die Proben des K u 11 u r f i 1 m-Schaffens, darunter besonders „Evangile de Pierre“. Das neue Rouxcolor -System möchten wir gerne an einem abendfüllenden Farbfilm erprobt sehen.

Im ganzen konnte die Festwoche die weiterhin achtunggebietende Stellung des fran zösischen Films erweisen. Wir sehen seine besondere Sendung für die Zukunft in einer vermittelnden Position zwischen dem merkantil bestimmten Pseudorealismus von Hollywood und dem bisweilen film- und weltfremden mitteleuropäischen „Bühnenfilmstil", in gewissem Sinne auch dem stoffhungrigen, aber noch formlosen Film der Russen.

Neben den Filmen der Festwoche bescherten die letzten beiden Wochen auch noch andere, zumeist weniger festliche Ereignisse. Die Spitze hält — nochmals Frankreich, das auch mit zwei Filmen „außer Konkurrenz“ erfolgreich war, der athmosphärendichten Großstadtmelodie „Schweigen ist Gold“ und dem breiten lyrischen Epos „Das verlorene Paradies“. England folgt mit der exotischen Farbenpracht des Films „Die heilige Trommel“, Deutschland hält gute Mitte mit „Martina", „Verspieltes Leben" und „Alltägliche Geschichten“. Amerika steht mit dem Abenteuerfilm „Sumpfwasser" und einem richtigen Enfant tęrrible, dem unbeschreiblichen „Wie- ner“-Film „Der große Walzer" ausnahmsweise im Winkel.

Glücklicher war Film-Österreich in diesen Wochen. Der Start der Austria- Wochenschau entsprach den Erwartungen; die Berichterstattung ist schnell, gut gewählt und demokratisch loyal ausgewogen. Die einleitende Fanfare könnte noch bezeichnender und einprägsamer sein. — Mit dem Spielfilm „Höllische Liebe“ wiederholt das gleiche österreichische Ensemble den unverfänglichen Barockwitz des „Himmlischen Walzers“. Mit diesen Besuchen in Himmel und Hölle erscheinen nun allerdings die außerirdischen Abstecher des heimischen Filmlustspiels erschöpft, und es bleibt uns hoffentlich ein (dritter) Ausflug ins Filmfegefeuer erspart (der Besuch von 22 Filmen in zwei Wochen bedeutet an sich schon für den Kritiker ähnliches).

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