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Immer wieder ist der Österreicher versucht, die Schemata seiner mitgebrachten Vorstellungen über Strukturen zu legen, in denen er sich „traditionsgemäß“ auszukennen glaubt. Und was ihn zuweilen wie eine Webe vorkommt, die aus derselben Wolle wie die seine ist, erweist sich nachher als ein Stück, das durch einen ganz anderen Webstuhl gegangen ist. Er muß manches schabionisierte österreichertum ablegen, und das ist kein Fehler angesichts vieler von Grund auf gewandelter Verhältnisse, die sowohl die nationale als auch die soziale Revolution hinterlassen haben. Nicht alles von der Geschichte, die Gegenwart ist, und von der Tradition, die noch verpflichten kann, ist so sinnfällig- präsent, wie oben geschildert; manches ist verdeckt und verwischt. Aber man spürt dafür das stille und unipathetische Erinnern; es hat mit einem Hinneigen zu staatlichen, politischen und sonstigen Institutionen nichts zu tun; und der Österreicher von heute sollte es auch niemals so zu deuten versuchen. Hingegen wird eine andere Selbstinterpretation fällig: Österreich und insbesondere Wien mögen heute so etwas wie Exklaven des westeuropäischen Brückenkopfs sein; gut organisierte Urlaubs- und Umfah-rungsgebiete der freien Welt des Westens; dreisternmarkiertes Museum der „Hapsburg Monarchy“; hier, im Osten sind wir Leuchte geblieben. Nicht die Laterne, die Ludwig Uhland 1849 über Wien leuchten lassen wollte; nicht die alte Laterne, sondern gutes Licht. In diesem Licht stehend, spürt der Österreicher die an ihn gerichtete Erwartung. Aber er schämt sich auch; wenn er an Ermüdungen des österreichertums im eigenen Lande denkt; an den fruchtlosen Romantizismus der einen und an das recommencer ä zero der professionellen Ausmaler und Tapezierer der Welt der Enkel im Jahre 2000. Auch erinnert er sich des Wortes eines Österreichers, wonach Österreich zuweilen seine Interessen wegen eines Gulden und zwanzig Kreutzer, an denen verkehrt gespart wird, verliert. Jetzt, da sich das alte Österreich mit seinen letzten liebenswürdigen Repräsentanten still und ohne Aufsehen empfiehlt, gilt es: Hic rhodos hic salta.

Wir sind in der Wende. Hat man bisher und insbesondere nach 1918 zumeist nur nach dem gefragt, was jedem Volk des europäischen Kommunikationsraums (und insbesonders jenes an der Donau) den eigenen Weg in die Zukunft zeigt und das Loskommen von Gemeinsamkeiten, die geschichtlich und organisch geworden sind, dann ist jetzt so etwas wie eine Bestandaufnahme der Gemeinsamkeiten unterwegs. Dieses Denken ist in den Kirchen ebenso verbreitet wie in Kreisen der Wirtschaft; in den Staatskanzleien ebenso wie in den Wohnungen der Menschen aller Nationen, die Angst haben angesichts der Unsicherheiten im Transitorium von heute. Als Österreicher vermerken wir mit großer Genugtuung die sachliche und insbesonders kultursoziologische Würdigung des mitteleuropäischen Kommunikationsraums, so wie dieser die materielle und immaterielle Existenz einer vita communis zu tragen imstande ist. Die Erinnerung wird an diesem Punkt nicht in politische, wirtschaftliche und ideologische Probleme münden. Aber ein großes Ganzes gilt für alles und alle: Der neutrale Status Österreichs hat sich in den letzten Jahren immer besser in der Nachbarschaft und Konfrontation zum blockfreien Jugoslawien exemplifiziert. Dies geschah in einer Zeit, in der so viele Grenzen in Europa zu Barrieren wurden. Trotzdem bleibt das Größte zu tun übrig: Die Orientierung auf Gegenwartsaufgaben, für deren Lösung die Formel do ut des nicht mehr ausreicht. Wenn viele in den Beziehungen zu den spgenannten Entwicklungsländern die Formel do ut vivas anzuwenden bereit sindv dlanav gütidieäe Notwendigkeit erst recht für den Nachbarn. Was hätte es für einen Nutzen, würde Österreich in der Hecke der freien Welt des Westens verdorren; anstatt daß diese Hecke zum Blühen kommt und Früchte trägt.

Als sich das Flugzeug von der Startbahn des Belgrader Flughafens hob, konnte ich weit nach Süden schauen; dort, bei Arangjelovac, liegt ein Grab aus den Kämpfen vom Herbst 1914. Viele Gräber sind seither in diesem Land gegraben worden. Beim Abschiedsessen fragte mich ein priesterlicher Greis: Sind unsere Gräber in Eurem Land vergessen? Man darf dieser Gräber nicht vergessen, will man über Gräber und Gräben vorwärtsgehen.

In seiner budensischen Heimat ruht Augustin Kardinal Bea. Papst Johannes XXIII. hat ihn an die Spitze des Sekretariats für die Einheit der Christen berufen. Jetzt ist diese Spitze vakant, und die „kritischen Publizisten“ vermerken, daß in den Äußerungen des Vatikans mehr und mehr die Hinweise auf ökumenische Aufgaben und Aktivitäten fehlen, wo diese im Zusammenhang erwähnt werden sollten. Seit der Begegnung des Papstes Paul VI. mit dem ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel Athenagoras ist viel Wasser den Jordan hinabgeflossen. Der Fluß ist Front im Krieg geworden.

Pro Oriente ist nicht für kirchenpolitische Offizialitäten da; es ersetzt nicht die intellektuelle Arbeit der Theologen; und es kann den Hierarchen keine Verantwortung abnehmen. Pro Oriente ist für Schlechtwetterperioden da; für Föhnwetter; für die Schlammperiode in den Beziehungen zwischen Ost und West. Pro Oriente soll das Erbe des johan-näischen Zeitalters unverlierbar behalten; Pro Oriente reflektiert aber auch auf jene Wohltemperiertheit, die in guten Tagen zum Besten am österreichischen zählt. Und: Ein wenig vom Geist Dostojewskis tut zu Zeiten auch dem Wiener gut; das und Erinnerungen und Aufträge haben wir von unserem Besuch im Land an der Save und unteren Donau heimgebracht.

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