6560529-1948_45_12.jpg
Digital In Arbeit

„Raskolnikoff“ in Stockholm

Werbung
Werbung
Werbung

Stockholm, Ende Oktober 1948

Zum, erstenmal hat es sich ereignet, daß eine Schweizer Oper in Schweden aufgeführt, ja uraufgeführt worden ist. Dieser Tage fand in der königlichen Oper Stockholms die Premiere von Heinrich Sutermeisters „Raskolnikoff“ statt, und das Publikum, das bei diesem denkwürdigen Ereignis versammelt war, hat seine aufrichtige Zustimmung dazu gegeben. Die Aufführung war ein großer Erfolg, und der junge, bis jetzt im Norden wenig bekannte Komponist gehört seither für Schweden zu den Repräsentanten der modernen Musik, auf die man in Zukunft zu achten hat.

„Raskolnikoff“ geht auf Dostojewskis Roman „Schuld und Sühne" zurück, hat aber bei der Umwandlung in ein Textbuch verschiedene Veränderungen durchgemacht. Diese Umwandlung war eigentlich ein fast hoffnungsloses Unternehmen: wie sollte ein so in die Tiefen der Seele eindringender Roman, wo die Analyse den breitesten Raum einnimmt, für ein Opernlibretto gewonnen werden? Daß es wirklich gelang, ist das Verdienst Peter Sutermeisters, des Bruders des Komponisten, der durch erstaunliche Vereinfachungen und Einfälle ein Konzentrat des Dostojewsky- schen Romans geschaffen hat. So entstand eine einfache Volkslegende, die doch mit dem Epos im Inneren verbunden bleibt. Der Student Raskolnikoff wird aus Verzweiflung über Zeit und Umstände von der Zwangsvorstellung ergriffen, die alte Pfandleiherin — in der Oper „Eierverkäuferin“ — zu ermorden, gelangt aber nach der Tat durch eine Kette von Entwick-lungsmomenten zur inneren Umkehr. Sonja, die aus Not Gefallene, hilft ihm dabei, den Weg zum Kreuz, der der Entschluß zur Sühne ist, zu finden.

Die kühnen Vereinfachungen zeugen von gutem Theaterinstinkt. Um die krankhafte Gespaltenheit des Helden für die Bühne darzustellen, wurde eine neue Figur, „Raskolnikoffs anderes Ich“, eingeführt, die die dämonische Aufgabe hat, die Stimme des individualistischen Übermenschen, des Starken gegenüber der Herde zu sein. Erst mit der Überwindung und dem Erlöschen dieses „anderen Ichs“ wird der Weg zur Umkehr des Helden frei. Im Zusammenhang mit dieser Verführungsrolle ergibt sich ein ebenso wirkungsvolles wie ergreifendes Bühnenbild, das eine Vision ist: man sieht die Heere der „Starken“ im Feuerrauch über die Erde dahinziehen — als eine Erinnerung an die apokalyptischen Schrecken, die die Welt jüngst erlebt hat. Hier offenbart sich der thematische Zusammenhang der Oper mit unserer Zeit.

Die Musik wirkt im Anfang, da man unwillkürlich nach der neuen Note sucht, nicht unmittelbar schlagend. Aber schnell findet man sich in die Handlung hineingezogen, ja fasziniert, und entdeckt dann bald das typisch Sutermeistersche in der Art, Motive expressionistisch darzustellen. Der Zuhörer befindet sich von der Fieberstimmung des ersten Bildes an, die die Entwicklung vorbereitet, im Bann der Geschehnisse und kann sich bis zu den letzten Tak-ten nicht mehr davon lösen. Das bedeutet, daß die musikalische Inspiration das gesamte Werk durchwaltet. Es ist etwas Elementares in dieser Melodik und Rhythmik,

Der Komponist hatte natürlich nicht die Absicht, eine ,,russische“ Oper zu schreiben, verstand es aber gut, das fremde Kolorit mit einer für einen Schweizer erstaunlichen Einfühlungskraft festzuhalten. Die Marktszene des zweiten Bildes — die Oper besteht aus zwei Akten mit sechs Bildern —, die an „Petruschka“ erinnert, vermittelt am stärksten die russische Atmosphäre; in den letzten Bildern, wo Chöre an orthodoxe liturgische Musik anklingen, wird diese Note noch intensiver.

Die Szenenbilder sind Visionen für sich. Ein in der Höhe flachliegendes russisches Riesenkreuz über einer Allee von Riesenleuchtern bezeichnet das vorletzte Bild, das der Umkehr Raskolnikoffs vorausgeht. Die letzte Szene, die am Ufer der Newa spielt, zeigt den weiten Fluß mit langer Holzbrücke und den Kirchenkuppeln des jenseitigen Ufers, die beim Aufgang der Sonne im Goldglanz aufleuchten. Hier erlebt man eine Vereinigung von Bild, Musik und Idee, die unvergeßlich bleibt.

Eine moderne Oper, die Christliches gestaltet! Sie ist wieder ein Beweis dafür, daß es nicht der Geschraubtheit und des Pathos bedarf, um der Höhe des Gegenstandes gerecht zu werden, sondern der richtigen Anwendung auch profaner Mitte.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung