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Seines Doppelwesens voll bewußt. . .

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Einzelgänger sind meist treffsichere Beobachter und Psychologen. Wäre der Referent im Großen Generalstab (und Jahrgangskamerad der Generalobersten Freiherr v. Fritsch bzw. Beck) aus altpreußischem Offiziersmilieu entsprossen, so würden seine Erinnerungen wohl — mit einigen Ausflügen in die hohe Politik — um das Fachliche kreisen; „verkleinerte Ausgabe“ jener seines Chefs Ludendorff. Aber Hillard ist als Sohn eines patrizischen, auslanddeutschen Kaufmannes geboren, von früh auf anderer Sprachen und Lebensformen kundig und tritt, so prädisponiert, in den militärischen Bereich. Er wird in Plön als einer von dessen drei ausgewählten Altersgefährten gemeinsam mit dem deutschen Kronprinzen erzogen, der ihm von da an freundschaftlich verbunden bleibt. Schnelles Avancement, Bewährung im Krieg, dann der Zusammenbruch. Also: ein begabter und fachkundiger Offizier, bei seinen Kameraden beliebt, von seinen Vorgesetzten anerkannt, dazu ein passionierter Reiter und läger. Dies die eine Seite seiner Existenz. Die andere: „Nur der ist ein Künstler, der zwei Naturen in sich trägt und sich seines Doppelwesens voll bewußt ist.“ Hillard zitiert diesen tiefen Ausspruch Baudelaires. Gilt diese Erkenntnis aber nur für den Künstler? Nicht für alle, die über ihren Beruf und ihr soziales Schema hinaus eine zweite und uneingeengte geistige Heimstätte besitzen? Oder in deren Adern mehrere Blutströme zusammenfließen? Wobei es freilich dahinsteht, wie vielen eine so starke Persönlichkeit gegeben ist, daß sie diese ungleich gerichteten Kräfte zu koordinieren vermögen. Hillard ist dazu klarsichtig und vital genug. Noch als Frequentant der Offiziersreitschule liest er mit höchster Intensität Schopenhauer und Nietzsche, ohne in die Verwirrungen verstrickt zu werden, in die der letzt-tere das Deutschland der lahrhundertwende gestürzt hat. Er nimmt und behält mit dem „geistigen Deutschland“ seiner Epoche auf der ganzen Linie Fühlung. Kaum ein Stern, der in seiner Himmelskarte fehlt — möge welches Licht immer von ihm ausgehen. Die Reflexe seines vielfacettierten Geistes spiegeln dabei stets seine beiden inrteren Existenzen: einen wachen, aufnahmefreudigen Geist und eine ordnende, sichtende und formende Kraft.

So ist, was Hillard in ungemein gepflegter Sprache und in nobler Haltung erzählt, für den Leser ein ungetrübter Gewinn: Keine posthume Erkenntnis, keine unkritische Hinnahme; dafür Verständnis des Besonderen, des Persönlichen, des vorweg Gegebenen. Was Hillard etwa über den deutschen Kronprinzen berichtet, ist menschlich und sachlich gültiger, als dessen eigenes, anschauungsgebundenes Zeugnis, als die Schriften der Verteidiger und Widersacher. „Rosenkrantz und Güldenstern“, die gemeinsam als eine Art „Kollektiv“ auftretenden Höflinge, sind Gegenstand einer blendenden soziologischen Studie. Aber auch über Rathenau und Reinhardt weiß man besser Bescheid, wenn man sie mit und durch Hillard kennengelernt hat. In Summe: ein kluges, menschenkundiges Erinnerungsbuch von hoher Klasse und übrigens auch voll origineller Prägungen („die vergnügliche Barbarei der Neu-Berliner Zinspaläste“) — schade, daß es einen so reißerischen Titel trägt I Er reiht es in eine falsche Kategorie.

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