Paula Schlier - <strong>„Neue“ Frauen, altes System </strong><br />
Paula Schlier (1899–1977) gehörte zu der Generation junger Frauen, die in den 1920er-Jahren ihr Leben selbstbestimmt gestalten wollten, dabei aber an von der Gesellschaft vorgezeichnete Grenzen stießen. - © Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Universität Innsbruck

Sprachliche Kraft und Wucht

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Paula Schlier veröffentlichte 1926 ihr erstes Buch „Petras Aufzeichnungen“. Dieser zu Unrecht in Vergessenheit geratene literarisierte Zeitbericht verhandelt den Aufbruch einer jungen Frau und ihr Scheitern am „Diktat“ der Realität.

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Paula Schlier veröffentlichte 1926 ihr erstes Buch „Petras Aufzeichnungen“. Dieser zu Unrecht in Vergessenheit geratene literarisierte Zeitbericht verhandelt den Aufbruch einer jungen Frau und ihr Scheitern am „Diktat“ der Realität.

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Dass Paula Schliers Lebensbericht einer jungen Frau aus dem Jahr 1926 so radikal vergessen ist, mag eine Reihe von Gründen haben – zu rechtfertigen ist es nicht. Freilich ist manches an „Petras Aufzeichnungen oder Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit“ irritierend, das beginnt schon beim Titel: „Konzept“ und „Diktat“, das will nicht so recht zusammengehen. Genau das umreißt aber die Erfahrung jener Frauengeneration, die in den 1920er-Jahren hoffnungsfroh aufbrach, die neuen Optionen für einen selbstbestimmten Lebensentwurf zu nutzen, und rasch erkennen musste, dass das medial propagierte „Konzept“ der „neuen Frau“ am „Diktat“ der Realität mit ihrer ökonomischen wie politischen Dauerkrise scheiterte.

Die Fakten von „Petras Aufzeichnungen“ sind zumindest in groben Zügen autobiografisch. Schon die beiden Vornamen Petra und Paula stellen eine Verbindung her – und als feminine Formen der beiden Apostel Petrus und Paulus auch eine zum religiösen Kontext der Autorin, die aus einem protestantischen bürgerlichen Elternhaus in Ingolstadt stammte und 1932 zum Katholizismus konvertierte. Das mag mit ihrer unglücklichen Beziehung zu Ludwig Ficker – in dessen Brenner-Verlag das Buch erschien – genauso zu tun haben wie mit der Sehnsucht nach einem existenziellen Halt in schwieriger Zeit. Hinter Schliers später entstandenen Traumtexten und Visionen verschwand in der literarhistorischen Wahrnehmung die sprachliche Kraft und unsentimentale Wucht ihres ersten Buches. Wie die beiden Herausgeberinnen des Bandes, Annette Steinsiek und Ursula Schneider, in ihrem kenntnisreichen Nachwort herausstellen, ist es ohne Zweifel ein beachtliches und viel zu wenig beachtetes Dokument der Neuen Sachlichkeit.

Begrenzter Handlungsspielraum

Die „Aufzeichnungen“ beginnen und enden mit einem kurzen Traumkapitel. Beide spiegeln und reflektieren Petras Entwicklung entlang der Erlebnisse, die in den sieben dazwischenliegenden Abschnitten protokolliert werden. Denn wie autobiografisch der Kern der Geschichte auch sein mag, das Buch ist ein literarisierter Zeitbericht über den Aufbruch einer jungen Frau und ihre Suche nach einer sinnvollen Aufgabe.

Wie die 1899 geborene Paula Schlier betritt auch Petra die Welt gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten jenseits von Familie und Mädchenschule als Krankenschwester im Lazarett. Das war die einzig mögliche, zugleich aber in doppelter Hinsicht schlechte Option. Was Petra hier zu sehen bekommt, ist traumatisierend und frustrierend zugleich, denn in Kriegszeiten gelten Pflegedienste nicht Menschen, sondern Soldaten. „Die Hand sollte heilen, damit sie wieder durchschossen werden konnte.“ Und schlecht ist dieser Start auch, weil die Gesellschaft nach 1918 keine Verwendung mehr hatte für das Heer der Krankenschwestern, die in den Lazaretten das erste Mal Berufstätigkeit kennengelernt hatten. Auch Petra kehrt zu ihrer Familie zurück – als Sterbebegleiterin einer alten unverheirateten Tante. Das Leben dieser vereinsamten Frau ergibt im Rahmen des Berichts das Bild eines anderen, wenig ermutigenden Lebensentwurfs.

Die folgenden vier Abschnitte erzählen vom Scheitern in der Großstadt München. Der Plan eines Studiums stellt sich bald als aussichtslos heraus, was bleibt, ist die schnelle Ausbildung zur Stenotypistin, also das zeittypische Berufsfeld Bürofräulein, mit schlechter Bezahlung, langen Arbeitstagen, launenhaften und nicht selten übergriffigen Vorgesetzten. Konkret führt Petras Weg von einem Verlag in eine Presseagentur und schließlich in die „Redaktion der Patrioten“. Dieser längste Abschnitt des Buches ist ein tagebuchartiger Live-Bericht mit einmontierten Originalzitaten aus dem Innenleben des Völkischen Beobachters im Jahr 1923. Dieser Teil wurde am häufigsten isoliert abgedruckt und brachte Paula Schlier nicht nur Popularität, sondern 1942 auch die Verhaftung durch die Gestapo; nach 1945 sorgte der Text mitunter für Irritation. Es ist nicht mit letzter Sicherheit auszumachen, inwieweit ihr Eintritt als Redaktionssekretärin eine bewusste Entscheidung im Sinne eines investigativen Journalismus war oder einfach der Schliers Leben zuverlässig begleitenden finanziellen Not entsprang.

Evident ist, dass sie in einer Reihe von Artikeln gegen den Nationalsozialismus Stellung bezogen hat, und auch, dass 1923 die Entwicklung der kommenden Jahre kaum vorhersehbar war. Zentrale Elemente der nationalsozialistischen Ideologie wie den Antisemitismus lehnte Schlier klar ab, an ihrer Einschätzung der Akteure – allen voran Alfred Rosenberg, dem Petra im Buch nach dem gescheiterten Putsch der Nationalsozialisten zur Flucht verhilft – mag im Rückblick manches naiv erscheinen. Im Erleben ist zumindest vorstellbar, dass einige der späteren Täter noch aus mehr oder minder ehrenwerten Motiven bei der Sache waren.

Die Fallstricke der Realität

Das beste Zeugnis für die Aufrichtigkeit Paula Schliers selbst ist das Kapitel „Die Kinderbaracke“ über das Engagement einer Sozialarbeiterin in einem Heim für sozial deklassierte Kinder, erzähltechnisch kontrastiert mit einem poetischen Porträt der ausgelassenen Stimmung am Münchner Oktoberfest. Auch in der Kinderbaracke sieht Schlier die – wie im Lazarett – systemerhaltende, also letztlich vergebliche Funktion dieser Tätigkeit.

Wie Paula Schlier aber die Verlorenheit dieser Kinder beschreibt, findet sich so in der zeitgenössischen Literatur vielleicht nur bei Else Feldmann.

Wie sie aber die Verlorenheit dieser Kinder beschreibt, findet sich so in der zeitgenössischen Literatur vielleicht nur bei Else Feldmann. Petras letzte Station führt in die Steiermark, in das Imperium der Fürst Liechtenstein’schen Holzverwaltung. Auch hier sind ihre Erlebnisse wenig erfreulich. Ein besonderes Ekel ist der Direktor, was Petra noch lange nicht dazu motiviert, das Angebot jenes Rechtsanwalts anzunehmen, der ihn aus antisemitischen Gründen demontieren will.

Der vorliegende Band ermöglicht nicht nur eine Wiederbegegnung mit Paula Schliers – auch literarisch – anspruchsvollem Bericht über die Fallstricke der Realität, die dem Konzept der neuen Frau entgegenstanden, einer Lektüre wert ist auch das umfangreiche Nachwort der beiden Herausgeberinnen. Sie spannen darin – und auch im sorgfältigen Stellenkommentar – den Zeitkontext zum Verständnis des Buches auf und zeichnen, ausgehend vom Nachlass Paula Schliers am Innsbrucker Brenner-Archiv, den Lebensweg der Autorin aus den spärlich erhaltenen Dokumenten und Briefen nach.

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