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THEATER - AUSDRUCK DER ZEIT

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Das Theater ist seil jeher, mehr vielleicht als irgendeine andere Litera-turgattung, Ausdruck der Zeit; wendet es sich doch von vornherein an ein breites Publikum, das die eigenen Probleme auf der Bühne gelöst sehen möchte. Ein Theater ohne Gesellschaft Ist undenkbar; darum kann es auch gesellschaftskritischer sein und sfttrkere Bewegungen hervorrufen als selbst ein Bestseller oder Film, Wir haben uns In den letiten Jahren daran gewöhnt, von einer Krise des Theaters iu sprechen — so als ob es heute seine überragende Bedeutung verloren hätte. Eine solche Theaterkrise ist — wenn sie Oberhaupt die Wurzel des Schauspiels erreicht hat — heute wohl Uberwunden. In Darmstadt, In Baden-Baden, in Erlangen fanden „Thealergespräche“ unter Mitwirkung von Dramatikern, Kritikern, Literarhistorikern statt; auch der letzte Internationale PEN-Kongrefj In Wien hafte sich das „Theater als Ausdruck unserer Zeit“ zum Hauptthema gesetzt. Einige der wichtigsten Stellungnahmen aus diesen Gesprächen — die leider mehr Monologe als Gespräche waren — bringen wir, vermehrt um einige, die wir Büchern entnehmen, Im folgenden im Auszug.

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Das Theater ist seil jeher, mehr vielleicht als irgendeine andere Litera-turgattung, Ausdruck der Zeit; wendet es sich doch von vornherein an ein breites Publikum, das die eigenen Probleme auf der Bühne gelöst sehen möchte. Ein Theater ohne Gesellschaft Ist undenkbar; darum kann es auch gesellschaftskritischer sein und sfttrkere Bewegungen hervorrufen als selbst ein Bestseller oder Film, Wir haben uns In den letiten Jahren daran gewöhnt, von einer Krise des Theaters iu sprechen — so als ob es heute seine überragende Bedeutung verloren hätte. Eine solche Theaterkrise ist — wenn sie Oberhaupt die Wurzel des Schauspiels erreicht hat — heute wohl Uberwunden. In Darmstadt, In Baden-Baden, in Erlangen fanden „Thealergespräche“ unter Mitwirkung von Dramatikern, Kritikern, Literarhistorikern statt; auch der letzte Internationale PEN-Kongrefj In Wien hafte sich das „Theater als Ausdruck unserer Zeit“ zum Hauptthema gesetzt. Einige der wichtigsten Stellungnahmen aus diesen Gesprächen — die leider mehr Monologe als Gespräche waren — bringen wir, vermehrt um einige, die wir Büchern entnehmen, Im folgenden im Auszug.

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Der Dramatiker ist ein Produkt seiner Zeit und wirkt am effektvollsten und bedeutendsten, wenn er die Gedanken- und Gefühlsströme, die in seiner Gesellschaft vorherrschen, ausdrückt und wiedergibt. Ich sage deshalb besonders der Dramatiker, weil dal Drama in erster Linie ein Kunstwerk für die Massen ist. Es ist mehr an die Masse gerichtet, als an den einzelnen. Und wir alle wissen, daß die Reaktionen der Masse konservativer, emotioneller und weniger differenziert sind, als die Reaktionen jener einzelnen, welche die Masse bilden. Darüber hinaus macht das flüssige und kinetische Wesen des Dramas ein schnelles und unmißverständliches Erfassen unbedingt notwendig. Es bleibt keine Zeit, nachzudenken, zurückzublättern, das Bild von verschiedenen Seiten zu betrachten oder die Struktur des Materials zu prüfen. .Was nicht sofort erfaßt wird, ist unwiederbringlich verloren. Daher muß der Dramatiker in seiner Ausducksweise mehr als jeder andere Künstler das Tempo und die Anschauung seiner Zeit berücksichtigen. Er hat nicht die Rolle eines Denkers, eines Neuerers, eines Entdeckers inne, sondern bestenfalls die eines Katalysators, der das, was bereits von seinem Publikum fest geglaubt oder unbewußt gefühlt wird, verschmilzt und belebt. Sein Werk zeigt nur bereits Erkennbares: er ist der Spiegel seiner Zeit.

Der tragische Held hat heute als Held nahezu aufgehört zu existieren. Die das Edle verkörpernde Gestalt, von höherer Vorsehung geleitet, angetrieben von starken Leidenschaften, ist verschwunden. Die Helden des Dramas von heute — wenn man sie Helden nennen kann — sind verwirrte Geschöpfe, die in einem Wirrsal der Selbsttäuschung, des Mitleides mit sich selbst und der Machtlosigkeit der Umwelt gegenüber umhertappen, sich mit sehnsüchtigen Vorstellungen betäuben, und die ihnen am nächsten Stehenden durch ein Uebermaß oder einen Mangel an Liebe vernichten.

Es ist bemerkenswert, daß das zeitgenössische Drama fast überhaupt nicht Probleme Erwachsener behandelt. Unter Erwachsenen verstehe ich natürlich nicht nur Personen, die ihre gesetzliche Volljährigkeit erreicht haben, sondern reife Einzelpersonen, die emotionell sicher sind und die Fähigkeit haben, ihr Leben auf gesunde und konstruktive Weise zu führen. Die psychiatrische Therapie bezweifelt die Existenz solcher Personen. Das 20. Jahrhundert wird das Jahrhundert des Kindes genannt und das mit gewissem Recht, denn es entwickelte sich nicht nur ein neues und im großen und ganzen begrüßenswerte Interesse am Wohlergehen der Kinder, sondern die Erwachsenen neigen immer mehr dazu, sich mit ihren Kindern zu identifizieren oder den Problemen der Gegenwart zu entgehen beziehungsweise eine Lösung dieser Probleme zu finden, indem sie sich in die Kindheitserinnerungen flüchten. Die immer wiederkehrenden Themen unserer Dramen sind Verlassenheit, Auflehnung gegen elterliche Gewalt, emotionelles Aushungern, Fluchtmechanismen, Jugendkriminalität, Vergewaltigungen, Homosexualität, Schreckvorstellungen, Sadismus und Schizophrenie. Ich weiß, daß ich ein düsteres Bild malte, aber die Dramatiker und die Schauspieler sind nur die kurze und abstrakte Chronik ihrer Zeit.

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