Viele Sprachen und flüssige Identitäten

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Literaturtage

Das Literaturfestival findet jedes Jahr im Herbst statt. Begegnungen, Lesungen und Gespräche bringen internationale Literatur in O-Tönen in die Wachau.

"Dass früher alles besser war, gegen diese Behauptung hilft immer ein Blick in die Geschichte. Aber er zeigt auch die Wiederkehr bekannter Probleme -etwa Kämpfe um Macht und Vorherrschaft."

Wenn man an einem trüben Novembertag mit dem Bürgermeister durch die Marktgemeinde Spitz geht, lässt sich trotz Nebel und Kälte schwer nachvollziehen, was es für die Bewohner bedeutet haben mag, als 1620 die kaiserlichen Truppen einfielen, den Ort plünderten und niederbrannten. Spitz war protestantisch und es war rebellisch -und für die Rebellion wurde es bestraft. Die protestantische Kirche wurde nie wieder aufgebaut. Mitten in den Dreißigjährigen Krieg führte die Darstellung von Andreas Nunzer, Bürgermeister und Historiker, der originale Urkunden nicht nur gelesen hat, sondern daraus auch wörtlich zu zitieren weiß.

Dass früher alles besser war, gegen diese Behauptung hilft immer ein Blick in die Geschichte. Aber er zeigt auch die Wiederkehr bekannter Probleme -etwa die Kämpfe um Macht und Vorherrschaft. Sogar das Thema Asylrecht taucht in Spitz an der Donau auf. Anfang des 18. Jahrhunderts hatte sich eine Frau in die Kirche geflüchtet, um dem Todesurteil zu entkommen. Dem damaligen Propst Augustinus Fischer -Prediger, Jurist und Historiker -gelang es, das alte Recht der Kirche, Asyl zu gewähren, durchzusetzen.

Man braucht keine krampfhaften Verbindungen zur Gegenwart zu bemühen, um bei reflektierten Gängen durch die Geschichte wieder und wieder an aktuelle Ereignisse erinnert zu werden, an juristische, wirtschaftliche, politische und kulturelle Themen.

Wahrgenommen oder behauptet

Wenn Literaten und Literatinnen aus Europa in einer kleinen Marktgemeinde in der Wachau zusammenkommen, versammeln sich damit nicht nur verschiedene Sprachen, Kulturen und Sichtweisen. Auch die europäische Gegenwart ist samt ihren Fragen und Themen dann präsent. Das ist nicht weiter verwunderlich. Verwunderlich war bei den diesjährigen Europäischen Literaturtagen heuer eher das doch sehr negativ klingende Thema "Angst". Es erinnert an die 1970er-und 1980er-Jahre. Damals führte die ziemlich konkrete Angst vor einem Atomkrieg nicht nur zum Bau von privaten Bunkern, sondern zu einem Boom der apokalyptischen Literatur. Rückblickend kann man jedoch sagen: Statt depressive Passivität zu bewirken, setzte die Angst damals sogar nachhaltig in Bewegung: Friedens-und Umweltbewegungen wuchsen und nahmen an Bedeutung zu.

Wie steht es um die Angst heute, die manchmal diffus, manchmal konkret wahrgenommen oder behauptet wird, ausgelöst durch Flüchtlingsströme oder durch Terrorangriffe oder durch das Erstarken der Rechtspopulisten? Diese Frage begleitete heuer durch die Lesungen und Gespräche. Dabei wurde auch nach Gründen für gesellschaftliche Schieflagen gesucht und kritisch in die Vergangenheit geblickt. Gila Lustiger etwa, in Paris lebende deutsche Schriftstellerin, hatte bereits für ihren Roman "Die Schuld der anderen" Recherchen am sogenannten Rand der Gesellschaft betrieben und durch Kontakte mit der Polizei konkrete Entwicklungen hautnah mitverfolgt. Im Gespräch in Spitz erzählte sie von Banlieues, in denen die Menschen in großen Wohnblocks leben und wo die Straßen keine Namen haben. Es gebe keinen öffentlichen Raum, so Lustiger, keinen Raum, von dem man sagen könnte: Der ist für uns alle. Einst erbaut als Übergangsorte für Arbeitende, wohnen dort nun Arbeitslose, ohne Aussicht, je wegzukommen.

Während der Jugendkrawalle 2005 wurden 32 Bibliotheken in Brand gesetzt oder verwüstet. Gila Lustiger, Tochter des Historikers Arno Lustiger, der die Shoa nur knapp überlebt hatte, stellte -aus ihrem Buch "Erschütterung" lesend -die beklemmenden Fragen: "Wie kam es, dass kaum einer richtig Notiz davon nahm, dass Bibliotheken zerstört und Bibliothekare angegriffen wurden? Ja, wie kam es, dass es keinen von uns beunruhigte? Dass wir beim Anblick brennender Büchereien nicht erschraken? Dass nicht einmal ich gleich an den 10. Mai 1933 denken musste?" Was Soziologen erheben konnten - dass die Jugendlichen nämlich mit dieser Attacke auf Bibliotheken Sprache und Schrift, Gebote und Verbote, vermeintliche Strategien, sie mit Bildung "einzuschläfern", angegriffen hatten: Das alles benennt freilich noch nicht die Lösung, wie man aus diesem Teufelskreis wieder hinausfinden könnte.

Reden über die Angst

Die Angst vor so vielen Flüchtlingen kam wiederum am Freitagabend kurz aufs Tapet, als Elif Shafak mit dem diesjährigen Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln ausgezeichnet wurde. "Ich verstehe, dass Menschen Angst haben können in Bezug auf Immigranten, etwa den Job zu verlieren", sagte sie in einem intensiven Gespräch mit Laudatorin Rosie Goldsmith. "Über diese Angst sollten wir reden. Wenn wir nicht darüber reden, treiben wir die Menschen in die Arme der Rechtsextremen." Diese profitierten von der Angst. "Es ist okay, Angst zu haben, doch es ist nicht okay, von der Angst geleitet zu werden."

Bisher, so Shafak weiter, dachten wir, es gebe einige Teile in der Welt, die turbulent seien, aber der Westen galt als stabil und sicher. Seit 2016 wüssten wir aber, dass wir alle in flüssigen Zeiten leben und dass das, was in einem Teil der Welt geschehe, auch andere anderswo betreffe. Und wir wüssten, dass Geschichte nicht immer vorwärts gehe, sondern manchmal auch rückwärts. Populistische Demagogen verstünden es offensichtlich besser, mit den Emotionen der Menschen umzugehen. Die Angst der Menschen würde viel zu wenig beachtet. Wir bräuchten Orte der Redefreiheit, wo Menschen ihre Angst auch ausdrücken können.

Gefängnis und Selbstzensur

Das Thema Redefreiheit führte unweigerlich zum Thema Türkei, wo der Zusammenhang von Angst und Sprache bzw. Literatur allgegenwärtig sei, was man an den vielen inhaftierten Journalistinnen und Journalisten erkennen könne. Die Türkei habe darin, so Shafak, bereits China überholt. Tausende Akademiker hätten ihre Jobs verloren, nur weil sie eine Petition unterschrieben hätten. Sie hätten keine Chance, einen anderen Job zu bekommen an einer anderen Universität innerhalb der Türkei. Und die Türkei verlassen könnten sie auch nicht, denn vielen sei der Pass konfisziert worden. Es gebe viel Angst im Land, gerade bei denen, die schreiben, vor allem bei Journalisten, aber auch bei Akademikern, Autoren, Intellektuellen. Das Wort "Verräter" sei so einfach gesagt, man könne so leicht denunziert werden. Daher gebe es auch so viel Selbstzensur. Was da in der Türkei passiere, habe auch Auswirkungen rund um Türkei, denn der Verlust der Demokratie sei eine entmutigende Botschaft für viele andere Länder in der Region und darüber hinaus.

Elif Shafak, in Strassburg als Tochter türkischer Eltern geboren, spricht mehrere Sprachen und versucht in allen ihren Werken, seien es Essays, seien es öffentliche Auftritte, seien es Romane, gegen Unterdrückung und gegen monolithische Identitätsvorstellungen vorzugehen. "Warum können wir nicht mehrere sein? Wir sind vieles auf einmal zur selben Zeit." Menschen bestünden vor allem aus Wasser, erinnert Shafak, das heißt, sie seien flüssig. Ihre Identitäten sind es auch. Oder, um es mit Shafaks eigenen Worten und unübersetzt zu sagen: "I don't like identity and I don't like identity politics".

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