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Zur Erinnerung verdammt

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Zürich, im Oktober Dein Zürcher Schauspielhaus kommt, wie schon vor fünf Jahren im Falle der „Begnadeten Angst“ von Bernanos, das Verdienst zu, das neue Drama von William Faulkner, „Requiem für eine Nonne“, in der deutschen Uebersetzung zur Uraufführung gebracht zu haben, bevor die amerikanische Fassung gespielt wurde. Der an Bernanos anklingende Titel könnte vorerst eines jener Mode gewordenen Stücke um Sünde und Gnade erwarten lassen. Bei Faulkner ist das Thema von Schuld und Sühne aber weder eine Anpassung an die Mode, noch findet es eine Behandlung im Sinne der alle Konflikte lösenden göttlichen Gnade wie bei Bernanos. Mit der ihm eigenen Heftigkeit bohrt sich Faulkner in sein Thema, dessen äußere Handlung so angedeutet werden kann: Die Negermagd Nancy Mannigoe, eine frühere morphinistische Niggerdirne, versucht die Ehe ihrer weißen Herrin zu retten, indem sie im Augenblick, da diese Herrin mit einem Liebhaber und ihrem jüngeren Kind ausreißen will, das Kind erwürgt, wodurch sie gleichzeitig dem älteren Kind die Eltern zu erhalten hofft. Im vollen Bewußtsein ihrer Schuld'nimmt die Negermagd von ihren Richtern das Todesurteil entgegen. Gleichzeitig aber sühnt sie mit ihrem Opfertod auch die Schuld der ganzen Menschheit.

Das Thema ist für Faulkner nicht neu. Das Stück ging denn auch aus dem Mittelteil seines 1931 geschriebenen Romans „Sanctuary“ (Die Freistatt) hervor, aus jener quälenden Häufung grauenhaftester Ereignisse' um die verdorbene Studentin Temple Drake, die, aus bestem Hause stammend, in einem Bordell endet und der wir auf der Bühne als weiße Herrin Mrs. Stevens wieder begegnen, die in selbst-anklägerischer Weise ihre ganze düstere Vergangenheit enthüllt, um ihre Magd zu entlasten. Hier wird deutlich, daß Faulkners Gesamtwerk weitgehend Erinnerungsdichtung ist, daß ein unentrinnbares Geschick seine Helden an ihre Vergangenheit kettet, von welcher ihre Gegenwart schicksalshaft bestimmt wird. Faulkners Menschen stehen geradezu unter dem Zwang der Erinnerung. Aus dieser Auffassung wird auch seine düstere Theologie verständlich, die auf der Ueberzeugung basiert, daß die Menschen für die Sünden ihrer Väter büßen müssen. „Das Gestern lebt im Heute fort, weil das .Verhängnis' der Geschichte, die menschliche Schwäche und die menschliche Forderung sich stets gleichbleiben“, sagte Erich Franzen in seinem Einführungsvortrag. Das erregende Geschehnis um diesen Dies irae in den amerikanischen Südstaaten hinterläßt im gebannten Zuschauer ein Gefühl der Beklemmung. Es folgt keine läuternde Reinigung, der Begriff der Gnade ist hier unbekannt: die Niggermagd stirbt, ihre Herrin sieht sich zum Dauerzustand des Weiterleidens verurteilt. Ueberau Hoffnungslosigkeit und Zweifel, die auch Faulkners eigene Zweifel sind. Und gerade deshalb, weil der Dichter diesen fehlenden Gottesglauben durch einen Glauben an sich ersetzt und dadurch eigentlich dem Menschen die Rolle Gottes, des Schicksals oder wie immer man es nennen will, zuspricht, werden wir eine gewisse Bedrückung nicht los.

Dem quälenden geistigen Grundgefühl entspricht die Form des Stückes, das ja nicht primär als Drama konzipiert wurde, sondern eines jener typisoh amerikanischen Mehrzweckprodukte aus einer Kombination von Roman und Bühnenwerk darstellt. Der auf sieben Bilder in drei Akten umgearbeitete dialogbefrachtete Romanausschnitt wird zu einem einzigen großen Monolog. Diese dem eigentlich dramatischen handlungsreichen Geschehen konträr ge'gen-. überstehende Dramenform mit ihrer schwierigen Sprache, ihren erinnerungsmäßigen Rückblendungen und philosophischen Exkursen stellte an den Regisseur Leopold L i n d t b e r g hohe Anforderungen. Im Verein mit seinem Bühnenbildner Teo Otto gelang es ihm, den zwischen dem Gestern und Heute schwebenden Stil der Erinnerung, den „magischen Realismus“ Faulkners einzufangen und plastisch zum Ausdruck zu bringen. Allerdings 'standen ihm vier Hauptdarsteller zur Verfügung, die es ihm erlaubten, das anspruchsvolle Werk zu einer Demonstration vollendeten Kammerspiels zu erheben. Neben Carl Kuhlmann und Peter Lühr ragten vor allem Gisela Matthisent als Negermagd (der-man allerdings nur die Nonne, nicht die Dirne ganz glaubte) und die erstmals in Zürich auftretende Heidemarie H a t h e y e r hervor, deren fast einstündige Selbstanklage im zweiten Akt eine unvergeßliche Leistung darstellte.

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