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Suche nach dem verlorenen Menschen

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DIE STUNDE DES UHRMACHERS. Roman von Luc E s t a n g. Verlag Jakob Hegner, Köln. 301 Seiten. Preis 17.80 DM. — DAS VERWORFENE ERBE. Chronik einer Familie. Von William Faulkner. Fischer-Bücherei Nr. 626 (Großband). — SAVATA. Roman von William G oy e n. Band 132 der Kleinbuchreihe „Bibliothek Suhrkamp”. — FELDER. Texte von Jürgen Becker. Band Nr. 61 der Taschenbuchreihe „Edition Suhrkamp”.

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DIE STUNDE DES UHRMACHERS. Roman von Luc E s t a n g. Verlag Jakob Hegner, Köln. 301 Seiten. Preis 17.80 DM. — DAS VERWORFENE ERBE. Chronik einer Familie. Von William Faulkner. Fischer-Bücherei Nr. 626 (Großband). — SAVATA. Roman von William G oy e n. Band 132 der Kleinbuchreihe „Bibliothek Suhrkamp”. — FELDER. Texte von Jürgen Becker. Band Nr. 61 der Taschenbuchreihe „Edition Suhrkamp”.

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Beispielhaft für das Suchen nach einem tragfähigen Menschenbild ist Estangs Roman über einen reifen Mann, der, ähnlich wie in einem Déja-vu-Erlebnis, eine Krisensituation seiner Jugend, die ihn bis vor die Selbstauslöschung geführt hatte, resümierend wiederentdeckt. Wie in einem Puzzlespiel sucht er die Realitätssplitter zusammen, die das Rätsel der Herkunft seines Wesens aus dem Schicksal seiner Eltern und seines Großvaters lösen helfen sollen. Eine bedeutsame Rolle spielt dabei die unheimlich skurrile Gestalt eines alten Uhrmachers, der sich vorgenommen hatte, die Person von Elois Vater, dem Vater des passiven Helden dieses Buches, zwecks tieferer Erkenntnis gleich einem schadhaften Uhrwerk auseinanderzunehmen. Hier liegt eines der Gleichnisse verborgen, die das Buch prägen, denn Aristide, der Uhrmacher, scheint nichts anderes zu sein als die in ein menschliches Schicksal eingreifende Macht des Antischöpfers, dessen, der nicht schafft, sondern auseinandernimmt. Bei allem geradezu urbanem Realismus, mit dem Estang (er gehört zu den Trägern des Großen Literaturpreises der Academie française) seine Erzählung vorträgt, ist doch stets das, was hinter den erfaßbaren Dingen steht, das Eigentliche, sagbar nur, indem es ungesagt bleibt. Das Ergebnis der Bestandaufnahme ist jener Waffenstillstand, jenes ironisch-kühne Agreement, das viele denkende Menschen auf dem Scheitelpunkt ihrer Lebensbahn mit den Mächten der Finsternis schließen, wodurch diese — gebannt — von der Verfolgung ablassen. Hier stehen dann zwei Sätze, die etwas von der Weisheit des Buches andeuten: „Er weiß jetzt, das Selbstmorde von Jugendlichen nicht die tragischesten sind. Das Leben, das vor einem liegt, ist billiger als das, das hinter einem liegt.”

In Faulkners Werk vereinigen sich sechs Erzählungen, die vielfach auch einzeln publiziert wurden, zu den Genealogien zweier Sippen der amerikanischen Südstaaten: der weißen McCaslins und der schwarzen Abkömmlinge des Sklaven Thucydides und seines Weibes Eunice. Im Mittelpunkt des Zyklus steht die Geschichte „Der Bär” (mit einem Umfang von 126 Seiten), die schon bald nach ihrer Entstehung als zu dem knapp halben Dutzend zeitlos gültiger Meisterwerke kürzerer epischer Prosa gehörend erkannt wurde, die uns das Jahrhundert bisher bescherte. (Deutsch bereits als Nr. 56 der Bibliothek Suhrkamp publiziert, als Lizenzausgabe des Fretz & Was- muth Verlages Zürich, der Faulkners Gesamtwerk seit Jahren in vorbildlich edierten Ausgaben herausbringt.) Hier sei auch auf Michel Butors tiefschürfende Untersuchung der „Verwandtschaftsbeziehungen in Faulkners „Der Bär” hingewiesen, enthalten in dem Werk „Repertoire 1” (Biederstein-Verlag, München 1963).

Goyen, den wir anläßlich der der deutschen Ausgabe seines Romans „Haus aus Hauch” (Band Nr. 68 der Bibliothek Suhrkamp),

durch den er berühmt wurde, hier erstmalig vorstellten, widmet sein neues Werk, geladen mit Ironie, Menschenliebe und Faktentreue, dem Sektenwesen unter der amerikanischen Negerbevölkerung. Das Buch beginnt so: „Alle in unserer Familie sind dunkel, nur meine Schwester Savata hat helle Haut. Aber Jesus, weißt du wohl, war selbst dunkel. Sein Haar, sagt man, war wie Lammwolle und seine Füße wie poliertes Messing. Danke, Jesus.” Daran ist keine Spur von Unehrerbietigkeit, das ist so echt und wahr wie aus einem Nigrospiritual. Und um Savata, die Schöne, Begehrte, von der Lust dieser Welt behexte Schwester läßt die von Goyen geschaffene Erzählerin Ruby das Karussell der naiven, animalischen, herzbewegenden Abenteuer kreisen: unter Scharlatanen, Gaunern, Gläubigen und Besessenen der Sektenwelt, in der heroische Treue ebenso zu finden ist wie nackte Gewinnsucht und schnöder Verrat. Das Karussell dreht sich, der schwarze Mann auf der Suche nach sich selbst, und stets wenn er sich grei fen, begreifen will, hat er sich im Kreis — unerreichbar — schon weitergedreht.

Auf den Wellen jüngster Avantgardismen reitet Jürgen Becker einher. Er sucht, der denkbaren Imponderabilien menschlicher Ganzheit nicht achtend, nichts anderes als die Konfrontation und Provokation eines „Bewußtseins” mit oder durch die Umwelt einzufangen, wobei er als Gestaltungsprinzip den Stil von „Feld” zu „Feld” sprunghaft variiert. Man muß an Queneaus Meisterwerk: „Mein Freund Pierrot” (Edition Suhrkamp, Nr. 76) denken, der von ähnlichen Prämissen ausging wie Becker sie benützen wollte: nämlich in Pierrot, der weder über irgendeine Form von Willen noch über Absichten verfügt, den Nichtmenschen zu emanieren, der einzig daraus besteht, was die jeweilig momentane Umgebung in ihn hineinprojiziert. Was bei Queneau durch Clarte und Humor zu einem in steter Balance schwebenden Meisterwerk wurde, ist hier von schrillen Effekten durchjagt, amorph im Kern der Absicht, über die Felder führt kein Weg, ihre Evokation und, ihr Ende durch Selbstvernichtung fallen in eins.

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