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70 Autoren fragen: Wer ist der Nächste?

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„Wer ist mein Nächster? - 70 Autoren antworten auf eine zeitgemäße Frage“ - Das von Inge Meidinger-Geise herausgegebene Buch ist zweierlei: Anthologie und Enquete. Es versammelt Textbeispiele und Statements zum Thema „Der Nächste“.

Vermutlich liegt es ebenso an der Art der Fragestellung wie an der Auswahl der Autoren, daß die Antworten - in ihrer Grundtendenz wenigstens - kaum kontrovers ausfallen: Keiner der Autoren bestreitet, daß es in seinem Werk Bezugspunkte zum Begriff des „Nächsten“ gibt, einige bejahen die Frage emphatisch. Auch hinsichtlich der Gültigkeit dieses Begriffs herrscht kein Zweifel, allerdings wird sein „Kurswert“ nur vereinzelt optimistisch eingeschätzt; im allgemeinen lautet die Antwort: der Kurswert des Begriffs „Nächster“ sei gering, sollte es aber nicht sein.

Vielfalt gibt es nur in den Antworten auf die Frage: Wie würden Sie den Begriff definieren? Zwar wird von niemandem in Abrede gestellt, daß der Nächste ganz einfach jeder Mensch sei, ob Freund oder Feind, doch gehen die Autoren über eine solche Katechismusdefinition hinaus.

Am originellsten hat Hans Dieter Schmift, Gymnasialprofessor in Wertheim/Main, Jahrgang 1930, geantwortet: „Der Begriff bezeichnet einen Superlativ. Viele Menschen stehen mir als Mitmenschen nahe. Der Mensch aber, mit dem ich jetzt und heute zu tun habe, dessen Probleme mich beschäftigen, mich fordern, ist mir von aU den Nahen der Nächste.“

Luise Rinser, der auch bewußt ist, „daß Idi Amin und Hitler und solche Leute meine Nächsten sind“, hat die gestellte Frage beantwortet, indem sie sie zur starken Suggestivfrage umformulierte: „Wer ist denn nicht mein Nächster?“

Die lapidare Definition, mit welcher Horst Mönnich, freier Schriftsteller in Breitbrunn am Chiemsee, Jahrgang 1918, dem bekannten Spruch, jeder sei sich selbst der Nächste, den Boden unter den Füßen wegzieht: „Der Nächste bin ich.“ - erinnert an die Tatsache, daß sich das hebräische „ka-mo-cha“

nicht nur mit „wie dich selbst“ wiedergeben läßt, sondern auch heißen kann: „denn er ist wie du“.

Der Nächste ist nicht einfach das Objekt für Mildtätigkeit, sondern: „Der Nächste, das ist jeder, dessen Hilfe und Widerspruch ich brauche, und der meine Hilfe und meinen Widerspruch braucht, damit wir beide leben können“, wie Kurt Marti formuliert.

Was die Texte betrifft, so ist die Lektüre des über 200 Seiten starken Buches eher enttäuschend: es überwiegt eindeutig das Konventionelle. Woran mag das liegen? - Die Herausgeberin gesteht im Vorwort, daß nicht alle angeschriebenen Autoren mitgemacht haben: „Mancher Autor fühlte sich nicht vom Thema berührt, so mancher mußte aus Termingründen absagen.“

Nun ist dies gewiß das unvermeidliche Schicksal dieser Art von Publikationen, und es mag auch die Abwesenheit der Uterarischen „Prominenz“ erklären - Wer wäre nicht neugierig gewesen, was ein Boll geschrieben hätte? -, aber wie kommt es, daß eine ganze Generation von Schriftstellern fehlt? Das Durchschnittsalter der 70 Autoren ist 55, der jüngste ist 35. Haben die Zwanzig- bis Dreißigjährigen nichts zum Thema zu vermelden?

Den Rahmen konventioneller Lyrik und Prosa verläßt nur ein einziger der vertretenen Autoren: der Schweizer Dieter Fringeli geht mit seinen „Lyrischen Aphorismen“ (etwa: verbalmas-saker: ein Wort I gibts I dem anderen) Wege des Sprachexperiments. Ferner verdienen die Beiträge von O. H. Kühner („Sankt Martin“), W. Wulms („Bei Kreti und Pleti“), Kurt Marti („Ja“)

und Michael Zielonka(.....wirheben

uns ja selber nicht“), besonders hervorgehoben zu werden.

Gemessen am ersten Text der Anthologie verblaßt jedoch die absolute Mehrheit der Beiträge: gemessen an -den 17 Zeilen aus Lk 10.

WER IST MEIN NÄCHSTER? -70 Autoren antworten auf eine zeitgemäße Frage. Herausgegeben von Inge Meidinger-Geise. Herder-Verlag 1977, 215 Seiten, öS 154,40.

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