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Wer viel redet, lebt lang

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Die Gesundheit des Redens hängt ja davon ab, wo und wann man den Mund aufmacht.

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Die Gesundheit des Redens hängt ja davon ab, wo und wann man den Mund aufmacht.

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Belügen uns die Sprichwörter - oder verstehen wir sie falsch? Jeder weiß doch, daß Reden Silber und Schweigen Gold ist. Man kann das auch an Beispielen von Menschen nachweisen, die sich mit Beden Silber verdienten und von solchen, die für ihr Schweigen Gold bekamen. Diese sind allerdings schwieriger beim Namen zu nennen, weil sie sich meistens darüber ausschweigen, daß sie für ihr Schweigen Gold bekommen haben.

Es gibt natürlich auch umgekehrte Beispiele — von Leuten, die für das Beden Gold kassieren und für das. Schweigen Silber. Listig - wie die Volksweisheit nun mal ist - verschweigt das Sprichwort die Mengenverhältnisse. Ein Pfund Silber ist ja wertvoller als ein Gramm Gold. Somit läßt der Spruch alle Auslegungsmöglichkeiten zu. Die traditionelle Interpretation, daß er eine Aufforderung zum Schweigen ist, ist eine mutwillige Behauptung derjenigen, die sich in Schweigen hüllen, um sich nicht zu verraten, oder aber andere zum Schweigen bringen möchten.

Und nun kommt ein Professor Jean Camiot aus Nizza und behauptet, daß vieles Reden das Leben verlängert. Der stete Redefluß beschleunigt nämlich die Atmung und regt den Blutkreislauf an. Diese Erkenntnis könnte ich aus eigener Erfahrung bestätigen - denn mir ist schon öfters das Blut in den Kopf gestiegen, wenn ich dem Bedefluß von manchen Leuten zugehört habe. Es ist allerdings fraglich, ob beschleunigte Atmung bei der heutigen Luft-qualität ein Plus ist. Außerdem - ich erinnere mich an eine altbekannte Methode, den Kreislauf anzuregen, die angenehmer ist als das Beden. Sie hat freilich den Nachteil, daß man dazu zwei braucht - reden dagegen kann man ganz allein, auch über die oben genannte Methode.

Wir wollen aber nicht mit kleinlichen Argumenten die Theorie von Professor Camiot anfechten, denn sie hilft einige Phänomene erklären. Zum Beispiel, warum Demagogen so ein zähes Leben haben. Oder warum Frauen in der Begel länger leben als Männer. (Obwohl ich nicht glaube, daß Frauen mehr reden als Männer: Die Langlebigkeit kommt davon, daß sie immer das letzte Wort haben.)

Andererseits, sollte die Theorie von Professor Camiot stimmen, wie kann er erklären, daß es die schweigende Mehrheit gibt? Nach logischen und statistischen Gesetzen hätte es - aufgrund der höheren Lebenserwartung der Wortreichen -eine redende sein müssen.

Der Widerspruch erklärt sich daraus, daß der Gelehrte nur den Prozeß und nicht den Inhalt des Bedens und Schweigens berücksichtigt.

Die Gesundheit des Redens hängt ja davon ab, wo und wann man den Mund aufmacht, und sein Silberwert davon, nach wessen Mund man redet. Die Gefahr der Einatmung von Schadstoffen ist von der ökologischen Situation abhängig, die Gefährlichkeit des Redens von der politischen. Am gefährlichsten ist es, zu reden, wenn man was zu sagen hat, in einem Staat, wo man nichts zu sagen hat.

Das gehört aber nicht mehr in den Bereich der Medizin. Mich freut die Feststellung des Professors, daß der Prozeß des Bedens selbst gesund ist. Das ermutigt. Man kann ja schließlich immer über etwas reden, ohne etwas sagen zu müssen. Auch wenn man kein Politiker ist.

Es steht jetzt fest: Wer bis ins hohe Alter viel redet, der lebt lang.

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