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„Beatris“ — eine Problemoper

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Die vor kurzem zu Ende gegangenen Musikfestspiele in Aix en Provence waren dieses Jahr von besonderer Wichtigkeit, da eine neue Oper „Beatris de Planissolas“ —> 5 dialogues- musicaux — von Jacques Charpentier und R. Nelli (Textbuch) welturaufgeführt wurde.

Eine aus der Geschichte der „Catarren“ genommene Begebenheit gab den Autoren die Idee für das Werk ein. Eine adelige Dame, Beatris, verteidigt sich vor dem Inquisitionsgericht des Bischofs Fournier gegen die Anklage, sie hätte ein sündiges Verhältnis mit dem ketzerischen Pfarrer P. Clergue gehabt. Charpentier schreibt: „Dieser merkwürdige Prozeß nahm mich sofort gefangen… Jeder ist auf der Suche nach einer Wahrheit, die er als die einzige betrachtet.“ So kümmert sich der Bischof allein um den reinen katholischen Glauben; Clerque glaubt weder an die menschliche Liebe Beatris’ noch an die Liebe Gottes und die Erlösung; Beatris aber stellt eine neue Maria Magdalena dar. Sich am Anfang der Liebe des Priesters erwehrend, dann durch dessen Verzweiflung gerührt, bemüht sie sich für ihn und für sich einen neuen Lebensgrund zu finden, der Fleisch und Geist, Schöpfer und Geschöpf in der Liebe vereint! Wunderbare Figur einer Liebenden und einer Dialektikerin (was ihr der Bischof vorwirft), die die Dialektik in den Dienst des Geliebten stellt. Tiefgreifendes theologisches Problem, dessen Fragestellung darin liegt, ob Gott des Menschen bedürfe, und die Sinnlosigkeit einer Welt zeigt, einer Kirche, in der das Gesetz die Liebe verbannen würde. In der Stunde der Verurteilung demütigt sich Beatris, ist aber von jener groben Unsicherheit gepeinigt, die der Enttäuschung nahe ist: „Der Liebe schwöre ich ab, Herr, wenn die Liebe ketzerisch ist. Ich bereue es, schwer sündigte ich gegen Gott, indem ich glaubte, Er bedürfe des Geschöpfes, um Seine Schöpfung zu vollenden.“

Die Schwierigkeit eines solchen Themas lag in der Länge und der Subtilität des Textes, in der verinnerlichten Handlung, die immer wieder die Vergangenheit evoziert. Dazu kommt noch die fast unverständliche „occitamische“ Sprache. Daher sollte man nicht von Oper, sondern von einer Art Oratorium, wie von der in Salzburg aufgeführten „Rappresentatione“ von E. Cavalieri, sprechen.

Es wäre die Aufgabe des Regisseurs, die Seelendramatik der Personen sichtbar darstellen zu lassen, um so mehr, als der Bischof während des ganzen Prozesses den geschehenen Taten der Helden nachspürt. D. Delouche versuchte die Vergangenheit auf einer durch Vorhänge längsgeteilten Bühne darzustellen. Das bedeutete: Trennung zwischen Wort und Handlung: Gesang und Gegenwart auf der Vorderbühne, auf der Hinterbühne die Vergangenheit in einer extrem langsamen Choreographie. Man merkt deutlich, daß Delouche früher Assistent von F. Fellini war. Trotzdem schien uns die Inszenierung verfehlt, ja sogar sinnwidrig, was den Text betrifft, und wenig geschickt, um die geistige Entwicklung der Helden zu schildern. Es wurde z. B. nie verständlich, daß Beatris zwischen sinnlicher Abneigung und Anziehung schwankte; nie wurde klar, wie sie nach und nach vom Mitleid zur Liebe und schließlich zur Verzeiflung kam.

Man wartete dann darauf, wenigstens in der Musik diese psychologische Tiefe zu spüren, die die Inszenierung nicht zeigte. Man dachte an jene andere Sünderin — Salome — deren theatralische Existenz vor allem auf dem Musizieren von Richard Strauss beruht. Charpentier, Schüler von Messiaen und Tony Aubin, besitzt große Kunstfertigkeiten. Wie Marius Constant und Henri Dutilleux kennt er gründlich den modernen Komponierstil — hier den der Atonalität. Er bemüht sich, Musik zu schreiben, die zur außerordentlichen Handlung paßt. Aber die Mitteln sind zu rudimentär: er benutzt zu oft die Schlaginstrumente, das Orchester spielt nur die Rolle eines „Lärmcontinuums“, das wie bei Xenakis von Zeit zu Zeit in brutales Getöse ausbricht. Dem fortwährenden Parlando fehlt der Ausdruck des Liebens und des Leidens.

Schade: Beatris ist keine französische Gegenfigur der deutschen Salome geworden. Vielleicht wäre es trotzdem geschehen, hätten die Sänger (Liliane Guitton als Beatris, Marc Vento als Bischof und Michael Trem- pont als Clergue) nicht nur technische Sauberkeit, sondern auch innere Wahrheit gesucht. — Das Orčhestre de Paris unter der Leitung des Komponisten beherrschte souverän alle Schwierigkeiten dieser modernen Partitur.

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