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Bitte: Was ist das, Österreich ?

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Wie freilich nur der Eingeweihte weiß, befaßt sich seit mehreren Jahren ein Interministerielles Komitee für Sonderfragen — eine ungeachtet ihrer stillen Arbeit sehr einflußreiche Einrichtung — mit der Frage, wie man „Österreich“ und das „Österreichische“ zu definieren habe. — Das Interministerielle ist an komplizierte Fragestellungen gewöhnt und verabscheut nichts so sehr wie vorschnelle Antworten. Auch im Jahr des 30jährigen Bestehens der Zweiten Republik und 20 Jahre nach dem Staatsvertrag.

Demi wirklich: Was ist gemeint, wenn von Österreich die Rede ist? Ist damit lediglich jenes geographische Gebilde gemeint, das, an der Schweizer“ und Liechtensteinischen Grenze unauffällig dünn beginnend, gegen Osten zu beachtlicher Dicke anschwillt und solcherart zum Wohle der Menschheit verhindert, daß Tschechen und Italiener, Bayern und Ungarn gemeinsame Grenzen haben?

Übt dieses Gebilde in der Tat jene Funktion aus, die ihm seine Bundes-hymne zuweist, nämlich das „starke Herz“ Europas zu sein? Oder ist es mir (was wir nicht glauben, aber immerhin als Möglichkeit anführen wollen) der bldnddarmähnliche Schnörkel einer in ihren Absichten nicht gänzlich erhefflbaren Entwicklungsgeschichte? Oder eine Zirbeldrüse, ein Ziwerchf eil oder, wer weiß, sogar eine Art Gebärmutter?

Oder sollte man sich damit begnügen, Österreich als eine Republik mit siebeneinhalb Millionen relativ tüchtiger Einwohner zu betrachten, die sich seit 1918 unter wechselnden und teils sogar tragischen Umständen zu einem zwar kleinen, aber lebensfähigen Staatsgefoilde gemausert hat, einer anderen und etwas lustigeren Schweiz gewissermaßen?

Aber in welcher Relation steht dann dieses klemrepubiikanische Österreich au jenem von der Landkarte verschwundenen Groß-Öster-reich, über dessen Zeugnisse, Denk-und Verwaltunigsweisen man ja doch bei jedem Schritt und Tritt stolpert? Daß die Schraffuren auf den Landkarten nicht gänzlich jene Gebiete umreißen, in denen sich der Österreicher heimisch fühlt, wird jedem Tiroler, jedem Burgenländer, jedem Steirer einleuchten und selbst jedem, der einmal einen entsetzten Blick auf das sommerliche Jesolo geworfen hat. Gewiß könnte man einwenden, daß solche mentalen Grenzun-söhärfen nachwirkende Reflexe gemeinsamer Vergangenheit sind — aber dafür winken sie eigentlich schon hübsch lange nach. Noch reicht Österreich über Österreich hinaus...

Solohe Überblendungen spielen auch innerhalb des vorhandenen Staatsgebietes der Republik eine bedeutende Rolle. Auch da stimmen physikalische und psychische, politische und literarische, gewisse uralte, jedoch sehr lebendige Strukturen mit denen späterer Zeiten oft gar nicht überein. Man könnte sich Landkarten Österreichs denken, die nicht nach den Regeln administrativer Einteilung oder nach geophysikalischen Gebräuchen gezeichnet wurden, sondern Bedeutungen wiedergeben. So würde auf einer Landkarte Österreichs, welche die Größe der Städte nicht nach ihrer Einwohnerzahl, sondern nach ihrer künstlerischen oder literarischen Potenz beurteüt, Graz möglicherweise fast so groß wie Wien und Linz kleiner als Kapfenberg sein; man könnte sich aber auch Karten vorstellen, auf denen Mariazell oder St. Pölten als die wichtigsten Punkte des Landes aufscheinen oder wieder andere, in denen die Größe der Bundesländer nach ihrer Bedeutung für das Ganze dargestellt wird. — Wunderliche Gebilde würden sich da ergeben, aber auch schwindelerregende Perspektiven ins Traumhafte hinein.

„Es gibt ein Land, das liegt irgendwo am Traunsee und bei Byzanz, zwischen Trapezunt und den griechischen Inseln, hinter den attischen Wäldern, und es wird bewacht von den Schalmeiposten des österreichischen Außenamtes... Inmitten der tarockanischen Wälder ist die Hauptstadt zu vermuten, eine Mischung aus Wien, Bad Ischl, Byzanz und Meran.“ Diese Definition Paul Floras angesichts von Zeichnungen Herzmanovskys kann man als die Beschreibung einer österreichischen Dimension durchaus ernstnehmen.

Aber: Wie verhält sich >— um einen anderen und viel wichtigeren Protolemsektor zu eröffnen — das Österreich des offiziellen Amtskalenders, der Gewerkschaiftsfunk-tionäre und der Fremdenverkehrs -verseuchuhg zu jenem anderen Österreich, das weder zu diesen Phänomenen noch zu dem kleinen rosa Fleck im Atlas in Beziehung zu stehen scheint, und doch, ganz ohne Zweifel, auch existent ist — jenes Österreich, das univerdrossen Rudel von Nobelpreisträgern, Horden von Dichtern und Heerscharen sonst irgendwie Kreativer gebiert? Und wie verhalten sich deren Träume zu dem, was man — oft allerdings fälschlich! — die „Wirklichkeit“ nennt?

Es gibt also, ganz ohne Zweifel, auf der anderen Seite auch ein nur in Träumen existierendes Österreich, das gleichwohl sehr real auf das Denken und ja sogar Handeln vieler Österreicher einwirkt — ein Traumreich des gemeinsamen Nenners, in dem Realität und Phantasie, Geographie und Literatur, Erfundenes und Vorhandenes, alles scheinbar Unvereinbare mit einem Wort, zu einer glüokseligstimmenden Vollkommenheit zusammenschließt, die zugleich den Begriff dessen, was „österreichisch“ ist, endlich erhellen und eines unbestimmten Tages den Punkt erkennen lassen wird, an dem alles zusammenpassen wird.

Es ist zu vermuten, daß sich die Arbeit des Interministeriellen Komitees für Sonderfragen unweigerlich, wenn auch natürlich in einem jetzt noch nicht abzuschätzenden Zeitraum eben jenem geheimnisvollen Punkt nähern wird. — Ich aber begnüge mich damit, dem Interministeriellen Komitee und unseren Lesern die Überlegungen vorzulegen, ob Österreich möglicherweise und unter anderem nicht einfach ein phantastisches Land ist.

Möglicherweise und unter anderem sage ich, denn zu den faszinierenden Merkwürdigkeiten unseres Landes gehört es ja wohl, daß widersprüchliche Interpretationen hier einander nicht ausschließen, sondern ergänzen.

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