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Das Erwachen der Mystik

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Mit dem ersten Band einer auf vier Bände geplanten „Geschichte der abendländischen Mystik" von Kurt Ruh signalisierte der C. H. Beck-Verlag sehr kompetent eine mehrfach auffallende Zeitströmung: das Interesse an mystischem Erleben wächst, und Fragen nach der christlichen Mystik, nach ihrer Tradition, nach ihren Ursprüngen und ihrer Vielfalt gewinnen immer mehr an Bedeutung.

Was zuerst bei der Lektüre dieses lebendig geschriebenen Werkes auffällt, ist, daß unser Licht aus dem Nahen Osten kommt, eine Tatsache, die immer mehr in Vergessenheit geriet. Das Christentum selbst und die wichtigsten Impulse der religiösen Mystik entstammen östlichen Quellen, Rom war der Brückenkopf, oft Stützpunkt für wichtige Emigranten aus dem Osten, die große Stadt der Vermittlung nach dem Westen, bis sie selbst zum Zentrum wurde.

Dionysius Areopagita steht am Anfang der abendländischen Mystik, ein Grieche oder Syrer, dessen Identität bis heute nicht geklärt ist. Dieser Unbekannte hatte den stärksten Einfluß auf die christlich-mystische Entwicklung, die von Paris aus die gesamte Kultur im Westen durchdrang.

Seit kurzem liegen wichtige Werke des Dionysius Areopagita in einer neuen deutschen Übersetzung (bei Hiersemann, Stuttgart) vor, und zwar auf Grund einer neu erarbeiteten griechischen und kritischen Ausgabe (DeGruyter, Berlin). Bei dem Würzburger Philologen Kurt Ruh kann man mit Spannung nachlesen, wie sich die Werke des unbekannten Heiligen aus dem Nahen Osten in Pari# geradezu ihre westliche Personifizierung neu geschaffen haben: Aus Dionysius wurde St. Denis, und dieser Märtyrer liegt in der nach ihm benannten gotischen Kathedrale begraben, die Abt Suger als erstes großes gotisches Bauwerk errichten ließ. Werner Hofmann sprach kürzlich von einer „neuen Sakralisierung" der modernen Kunst. Es würde sich also lohnen, der christlichen Mystik wieder mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Johannes Eriugena, Bernhard von Clairvaux, Hugo von St. Viktor, und natürlich Meister Eckhart, Johannes Tauler, Jakob Böhme trugen Wesentliches zur europäischen Kultur bei, und jüngere Generationen sollten sich dort einmal sehr eingehend umsehen, bevor sie sich den Sekten aus dem Fernen Osten zuwenden.

Auch unsere Religiosität hat östliche Wurzeln, jedoch nahöstliche, und sie nahm im westlichen geistigen Klima Substanzen auf, die vor allem in den modern auffrisierten fernöstlichen Sekten fehlen.

Die Besinnung auf die christliche Mystik könnte noch stärker als bisher jene Möglichkeiten zeigen, die in unserer eigenen Kultur liegen. Das Verlangen nach bestimmten Formen des Erlebens könnte so Erfüllung finden, die oft am anderen Ende der Welt vergeblich gesucht wird.

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