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Das Sdiulterklopfen

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Die Italiener haben ein Sprichwort: ist das Fest vorbei, so lacht man des Heiligen.

Österreich feiert in diesen kommenden Tagen vieles vielartig. Befreiung, Kriegsende, Gründung der Zweiten Republik, Staatsvertrag. Und was kommt danach?

Die Frage steht im Raum. Erinnern wir uns deshalb an 1945 und 1955, weil wir vergleichen wollen („Wie war das damals fürchterlich, wie ist es heute schön.“), oder wollen wir Lehren ziehen aus' dem Geschehenen? Verwenden wir die Feiern vielleicht vor allem als Anlaß dafür, uns auf das Patriotisch-Staatliche zu besinnen, daß es neben dem Wohlstandswohlergehen des einzelnen auch noch Anliegen der Gemeinschaft gibt?

Dabei hat kaum ein Anlaß mehr Gewicht als die Erinnerung an 1945 und 1955: beide Male war es das ganze Volk, alle großen Parteien, alle Interessengruppen, die etwas Gemeinsames wollten: Wiederaufbau, die Begründung einer Demokratie, Freiheit. Heute gibt es, 30 und 20 Jahre danach, keine gemeinsame Feier; jeder feiert unter sich oder unter Freunden.

30 Jahre haben selbst die alten NS-Parteigenossen davon überzeugt, daß Österreich lebensfähig ist. Es gibt unter Österreichern keinen Zweifel an der Notwendigkeit dieses selbständigen Staates.

Aber dennoch kultiviert dieses Österreich einen ständigen Komplex nationaler Minderwertigkeit; Patriotismus ist auch 30 Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches keine natürliche österreichische Selbstverständlichkeit. Ja, gelegentlich, im Wiener Stadion, oder wenn Karl Schranz von der bösen Welt schlecht behandelt wird, bricht Patriotismus durch. Oder ist das dann die verzerrte Maske des Chauvinismus? Ja, auch in der Österreichwoche freut sich die Handelskammer, daß wir so tüchtig im Welthandel mitmachen. Sie muß das aber als Werbespot im Fernsehen vollziehen, damit es ihr die Österreicher glauben...

Nebenher aber sitzt der Herr Karl 1975 gemütlich im Fauteuil, wenn er in diesen Tagen die Fernsehdokumentationen über das „Damals“ sieht? Ja, da war I a dabei...

Haben wir mittlerweile gelernt, Minderheiten wie unseresgleichen zu behandeln? In Kärnten feiert man mit dem 20. Jahrestag des Staatsvertrages auch gleich das Jubiläum der Nichterfüllung der Minderheitenforderungen ... Und in Ottakring fängt ein jugoslawischer Gastarbeiter noch immer eine Ohrfeige, wenn er die Gleichbehandlung mit den österreichischen Maurern verlangt. Aber natürlich, die Juden- verfolgt niemand mehr. Wir haben sogar einen Bundeskanzler jüdischer Abstammung.

Wir feiern auch den Jahrestag der Neutralität Österreichs. In Moskau hat sich Im April 1955 eine Regierungsdelegation zu einer „Neutralität nach Schweizer Muster“ verpflichtet. Ist unsere Neutralität eine solche nach Schweizer Muster? Oder wirft uns nur niemand vor, längst die Schweiz nicht mehr als Vorbild zu nehmen, weil es einer bestimmten Schutzmacht ganz gut paßt, daß wir die Neutralität heute anders auslegen als die Schweiz? Nennt sich das neutrales Selbstbewußtsein auf -er internationalen Bühne? Unterdessen kapituliert man vor den Arabern, um ja nur sicher sein öl zu bekommen, oder vor der Dritten UNO-Welt, um ein Bürogebäude im 22. Wiener Gemeindebezirk vollzubekommen. Wir sind auch die ersten, die für die Gipfelkonferenz bei der Europäischen Sicherheitskonferenz eintreten, die die Sowjets so gerne wollen — denn wir Österreicher sind doch „Realpolitiker“. Oder werden wir dort fragen, ob auch die ausstehenden Fragen der Humanität in den europäischen Ost-West-Beziehungen geklärt sind?

Hat uns all das den historischen Brückenschlag nach Osten erleichtert? Ist Österreich die „Drehscheibe“ zwischen West und Ost geworden?

Ja, vielleicht, für die Geheimdienste aus West und Ost...

Wir hoffen bei alledem, daß die Weltmächte unser Neutralitätsgärt-lein nicht betreten werden — ob mit UNO-Büros oder auch ohne solche. Nicht, weil wir Pazifisten sind und lieber rot als tot sein wollen — nein, weil ein anständig ausgestattetes Bundeesheer so viel kosten würde, daß wir uns vielleicht weniger Autobahnen, Gratisschulbücher, Subventionen und Pensionen leisten könnten. Oder?

Aber wir haben auch unsere Kultur. Sind wir sonst komplexbeladen: Herbert von Karajan und Michael Heitau tragen ja österreichisches in alle Welt. Zwar kommen 90 Prozent der Österreicher nie ins Theater — aber die Milliarde für Bundestheater und Festspiele gehört eum National prestige^

Versumnern wir unterdessen vielleicht, wie uns eine repräsentative Untersuchung nachweisen will? Ist es so, daß ein winziges Kulturbürgertum zwar noch den alten Glanz repräsentiert, die überwiegende Mehrheit der Österreicher aber längst in Geschmacklosigkeit, Kleinbürgerlichkeit und politischer Apathie dämmert?

Mag sein, daß die Österreicher nur ein Abziehbild der Europäer sind, in einem Zipfel Land am östlichen Rand der politischen Landkarte Europas. Aber erlaubt uns das, über unsere heutige Funktion nachzudenken — für das letzte Viertel dieses Jahrhunderts?

Es ist an der Zeit, diesem Volk wieder Aufgaben zu geben; nationale Ziele abzustecken — die an Europa orientiert sind; heute ein Mehr von den Menschen dieses Kleinstaates zu fordern, weil sie nur durch mehr Bildung einen besseren Lebensstil, mehr Know-how und mehr Leistung zwischen den Großen bestehen können. Es ist an der Zeit, mit der Politik der Charakterlosigkeit als Prinzip aufzuhören — selbst dann, wenn es manchmal unangenehm sein sollte (Hollands Beispiel während der Energiekrise hat Vorbildwert).

Das Geheimnis der Jahre nach 1945 war eine Opferbereitschaft, die mit erstaunlichem Optimismus gepaart war. Und die Politiker haben diesen Optimismus wesentlich stimuliert. Heute ist es geradezu schick, den baldigen Zusammenbruch von Wirtschaft und Gesellschaft, Umwelt und internationalem Gleichgewicht zu prophezeien. Warum soll es aber nicht gelingen, auch mit den zweifellos geringeren Problemen fertig zu werden — wenn, ja wenn wir zumindest in Österreich nur ein Mindestmaß an Solidarität und Gemeinschaftsgeist entwickeln?

Und Dreißig- wie Zwanzigjahrfeiern nicht dazu benützen, uns selbst auf die Schulter zu klopfen — sondern zu prüfen, was wir alles nicht aus der Geschichte gelernt haben.

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