6913936-1981_19_01.jpg
Digital In Arbeit

Der Große Exodus

Werbung
Werbung
Werbung

Das politische Klima in Österreich ist ungut. Lethargie, Resignation, dumpfer Groll, offener Haß, Gereiztheit mischen sich zu einem Gemenge, dessen Explosivstoff in der Ausfaltung unserer wirtschaftlichen Schwierigkeiten und des innenpolitischen Kampfes sichtbar zum Einsatz kommen kann - eines Tages.

Die überspitzte Personalisierung, das Hand- und Wort-Gerangel von Politikern, haben den Rückzug aus der Wirklichkeit noch gefördert. Im Blick auf die Vereinigten Staaten meint in einem Interview Joseph Heller, Jahrgang 1923, Bomberpilot im Zweiten Weltkrieg, Universitätsprofessor, Publizist in New York: „Amerika ist ein sehr faules Land, was politische Aktivitäten anlangt. Das Land ist an einer Veränderung nicht interessiert. Es ist politisch wie ein überfetter, fauler Schoßhund. Die Menschen sitzen lieber in einem brennenden Haus auf einem weichen Sofa, als hinauszugehen und Hilfe zu holen“.

„Wir sind nicht so“, erwidert mir ein Ehrenmann, ablehnend. Nun: Parallelen ergeben sich für jeden wachen, ergriffenen Mitbürger. Nicht hinausgehen und nicht Hilfe holen: tagtäglich kann das beobachtet werden, in den Häusern, auf den Straßen - und angesichts des riesenhaften Phänomens, das hier, sehr verknappt, angesprochen werden soll: der „Jugendunruhen“.

Wer auf „das Volk“ hört, kann von weit rechts bis ziemlich weit links, par- teilinks zumindest, dies hören: „Aufgehängt gehören sie, alle!“ „Diese Kriminellen, arbeiten woll’n s’ nicht, das ist alles.“

1968 fanden, weltweit, über zweitausend .Jugendunruhen“ statt. Mein zuerst in England und Amerika erschienenes Büchlein „Youth Movements“, 1970 (deutsch unter den Titeln „Jugendbewegungen“ und „Werthers Weg in den Underground“ 1973 erschienen),, schließt mit einem Ausblick auf die „Jugend ohne Zukunft“ - wie sie sich heute in allen Kontinenten erlebt: das Scheitern aller Jugendbewegungen. Aber:

„Sie wählen sich künstliche Väter, als Führer durch die Wüste der Geschichte, auf dem .langen Marsch* in das Gelobte Land. Die geheime Religion aller Jugendbewegungen verehrt einen wandernden Gott, einen Gott wandernder Völker, der vor ihnen herzieht, ein wandernder Vulkan ... Dieser Vulkan schafft, mit seinen glühenden Lavamassen, in schöpferischer Zerstörung aller alten Pompeji-Städte, neue, fruchtbringende Landschaften, auf denen Reben, Weizen, Reis, Myrte und Lorbeer wachsen. Der Traum Shelleys, Byrons und Blakes und Hölderlins. Auf diesem Neuland wird eine Wiege stehen, die Wiege des neuen Menschen. Tausendjährige Enttäuschung hat diesen großen Traum der Jugendbewegungen ... nicht zu töten vermocht.“

Alle Abwehrmechanismen werden rasch betätigt, alle inneren Barrikaden werden sofort aktiviert, wenn unsere „Bürger“ auf diesen Glauben ange sprochen werden. „Das gibt es nicht.“ Keine Spur eines Willens, dies zu sehen:

Exodus. Auszug junger Menschen aus den „Häusern“, den Institutionen ihrer „Väter“. Aus den Parteien, Kirchen, Universitäten, Schulen, Dörfern. Hilfloser Exodus - kein Gott, kein neuer Gott in Sicht: für viele. Deshalb die Drogen. Zunehmend die Zuflucht zu politischen Drogen: Rechtsextremismus, lange übersehen.

Der Linksextremismus füllt die Show-Bedürfnisse - wobei unter anderem dies übersehen wird: der militante radikale politische Linksextremismus in Italien wurzelt im Aufbruch junger katholischer Studenten, in einer Jugendbewegung, die unterdrückt wurde. Der südwestdeutsche Linksextremismus wurzelt in einem revolutionären Pietismus im Schwabenland. Diese Bezüge kommen nie in den Horizont „unserer“ völkischen Beobachter ...

Exodus: Auszug aus Ägypten, aus dem Lande der „Fleischtöpfe“. Das Volk, das sich Moses, dieser große Unbekannte, in der Wüste gebildet hat, vergaß ihm, grollend, nie, daß er es aus der Sattheit in Ägypten in den Hunger, das Elend, in den Tod in der Wüste geführt hatte. Moses sah als Götzendienst, als permanente Versuchung zum Götzendienst, zum Abfall vom wahren Gott, an, was breiteste Schichten „seines“ Volkes als ein Leben in der Normalität eines wohlgeordneten Beamtenstaates, mit seiner Bürokratie und Hierarchie, eben in Ägypten gelebt hatte.

Exodus heute: in der Abfolge immer neuer Exodus-Szenerien seit der Mitte der sechziger Jahre, wobei immer wieder „Ruhe und Ordnung“, konkret Resignation und die große Angst der überwiegenden Mehrheit aller kalendarisch Jugendlichen, inmitten der 26 Millionen Arbeitslosen allein der „westlichen Hemisphäre“, vor „Unruhen“ das trügerische Bild einer Befriedung, ja Befriedigung vermitteln.

Die große „Ruhe“ der schweigenden Mehrheit „unserer“ Jugendlichen täuscht. Wer sich von diesen jungen Menschen aktive Kämpfer für Freiheit, für Demokratie, für offene Gesellschaft erwartet, kann bittere Erfahrungen erleben.

Exodus: es ist auch dies ein Irrtum - den großen Auszug aus einer verwesenden Zivilisation, die sich mit Reproduktionen künstlerisch aufschminkt, nur, ja gar primär in spektakulären Auftritten, auf der Straße in Zürich und Berlin, und sporadisch, etwa auch in Wien, zu sehen.

Der Große Exodus findet nicht in Demonstrationen, Kundgebungen, spektakulären Aktionen, findet nicht in Terrorakten statt. Der Große Exodus findet in tiefer Stille statt. Lautlos, ohne Kommentare zu den Reden der „öffentlichen Herumsteher“ (Heidegger: „Holzwege“), ziehen Millionen junge Menschen aus. „Innere Emigration“ ist noch ein verharmlosendes Wort für diesen beklemmenden Vorgang.

Diese jungen Menschen verkünden keine neue „frohe Botschaft“. Sie sind nur zutiefst überzeugt: diese heutige Welt geht einen Weg zu einer zumindest partiell gelingenden „Endlösung der Menschenfrage“. Dies wird verharmlost: von nahezu allen Macht-Habern und ihren wissenschaftlichen und politischen Assistenten.

Wer widerlegt diese Tatsachen?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung