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Jugend ringt mit Anarchie

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Ernst Wiechert hat auf Schweiber Boden eine schwere Anklage gegen die deutsche Jugend gewagt. Er sehe, so sagte er dem „Berner, Bund“ in einem Interview, in Deutschland „nichts als eine einzige Seelenanarchie“. Wieder gehe „die deutsche Jugend hin zu den Mystagogen, Astrologen und Propheten“. Dies bittere Wort fällt um so mehr ins Gewicht, als es aus dem Munde eines Mannes kommt, der sich bisher als wagemutiger Freund und Geleiter der Jugend gab. Seine Rede zu Münchener Studenten am 16. April 1935 ist unvergessen und wird jetzt vielfach nadigedruckt. Prophetische Schau gab ihm damals die Sätze ein, es könne sein, daß „ein Volk aufhört, Gut und Böse zu unterscheiden“; es könne dann geschehen, ..daß es noch einen Gladiatorenruhm gewinnt und in Kämpfen ein neues Ethos aufrichtet, das wir ein -Boxerethos nennen wollen. Aber die Waage ist schon aufgehoben über diesem Volk, und an der Wand wird die Hand erscheinen, die die Buchstaben von Feuer schreibt“. Er beschloß diese düstere Rede damals mit dem Bekenntnis, daß „das Bild der Jugend strahlend“ vor ihm stünde.

Zwölf Jahre sind seitdem vergangen. Sie haben den Dichter in Buchenwald, seinem „Totenwald“, in die engste Tuchfühlung mit der Unmenschlichkeit gebracht. Sollten “sie das strahlende Bild der Jugend, das in München und selbst in dunkleren Stunden dem Dichter vor Augen schwebte, ausgelöscht haben? Niemand vermag zu ergründen, was in Wiechcrts Brust sich seither begab, was ihn heute, in der Stunde tiefsten Leides seines Volkes, drängt, ihm den Rücken zu kehren. „Ich will dieses Land verlassen“, sagte er in der Schweiz. Das hat viele seiner Landsleute bitter getroffen. Noch weniger vermag man zu begreifen, was ihn bewog, die deutsche Jugend in ihrer Gesamtheit als der „Seelen-anarch'e“ verfallen zu erklären.

Die äußere und innere Not der deutschen Jugend ist nicht zu beschreiben. Heimatlosigkeit, Berufslosigkeit, Erwerbslosigkeit, Aussichtslosigkeit — diese vier Kennzeichnungen eines grausamen Sachverhaltes deuten die Summe und Vielfalt des Elends der jungen Deutschen nur bläßlich an. Da die Verelendung offenkundig fortsdireitet, wäre es durchaus verständlich, wenn die deutsche Jugend in „eine einzige Seelenanarchie““und in die Fänge der Mystagogen abgleiten würde. Es ist kein Wunder und soll nicht geleugnet werden, daß die finsteren Mächte der Anarchie und des Chaos einen Teil der deutschen Jugend bereits in ihren Bann geschlagen haben. Ihnen aber stehen viele andere gegenüber, vor allem die Hunderttausende deutscher Jungkatholiken, und dürfen mit vollem .Recht Wiecherts harte Anklage zurückweisen. Denn sie ringen zäh und mutig mit den Dämonen der Zeit. Das bewies der Bekenntnistag 1947, den die kathoLsche Jugend Deutschlands unter der Losung beging: Ihr sollt mir Zeugen sein! Schon in der Morgenfrühe hatten sich überall ' die jungen Menschen zu- gemeinsamem Gebet und Opfer vereint, am Nachmittag versammelte man sich bei einer der wenigen erhaltenen Kirchen. Zu Abertausenden sah man unter ihnen bleiche, kränkelnde Gestalten, Opfer des Hungers und der Obdachlosigkeit. Und doch voll Begeisterung. In vielstimmigem Beten und Singen huldigten sie Christus und riefen seine verzeihende Liebe herab auf ihr Volk, das in der Not zu verzweifeln beginnt, auf daß er es segne.

In Frankfurt am Main wurde abends, mitten in den bröckelnden Ruinen der zerstörten Altstadt, neben dem schwergetroffenen Dom eine dürftige Freilichtbühne geschaffen und bis weit nach Mitternacht das Nachfolgc-Christi-Spiel von Max Meli gespielt. In seine letzte Szene quollen aus dem dunklen Hintergrund hunderte farbenfroher Fahnen und Wimpel herauf, gruppierten sich um das ragende Kreuz und verharrten dort, indessen langsam die Scheinwerfer einem geborstenen Häuserstumpf naebtasteten. Die Domglocke tönte mit dumpfem Schlage und der nächtliche Schwur der Jugend gelobte, das Kreuz auf sich zu nehmen. Ist das Hinkehr „zu den Mystagogen“?

Am selben Tag wallfahrteten 40.000 Jungen und Mädel des Erzbistums Köln nach dem Altenberger Dom, um dort ihre geistlichen Führer, Kardinal Frings und Prälat Wolker zu hBrejI. Andere 12.000 junge Christen zogen zur uralten Marien-gnadenstätte Wasserberg, nahe der deutschen Westgrenze, und sandten ihre Grüße hinüber zu den Brüdern nach Holland, Belgien und Luxemburg, denen Hitler so Schweres angetan hatte.

Der Geist der großen religiösen Kundgebungen belebt auch den Alltag. Trotz des Hungers und der Eiseskälte des letzten Winters fanden sich katholische Jungen und Mädel in frostigen Räumen zu allerlei Handarbeit, um noch ärmeren Flüchtlingskindern einen Gabentisch zu decken. Das Ergebnis — meist kleinere Kleidungsstücke und Spielzeug — war in den Unterkünften der Jugendgruppen ausgestellt und durchwegs sehr 'erfreulidi. Auch in der Hilfe, die sie den Vertriebenen, den Kriegsversehrten und den alten Leuten in der Stille leiseteten, zeigen die Jungkatholiken Deutschlands, daß „einer des andern Last“ tragen will. Jeden Monat einmal trifft sich die katholische Jugend der Großstädte in einer unzerstörten Kirche, um erneut den Anruf zu Opfer, Zeugnis und Gebet zu vernehmen.

Die breite Öffentlichkeit erfährt davon nicht viel. Vielleicht wäre es ihr geläufiger, wenn die katholische Jugend Deutschlands ein Spradirohr ihr eigen nennen könnte, eine Zeitung, die sie selbst redigiert. Gewiß, es existiert der „Fährmann“, eine wohlausgestattete Zeitschrift des Christo-phorus-Verlages. Die Jugend steht ihm je doch kritisch gegenüber. Man konnte da den Stimmen, die „Der Fährmann“ selbst veröffentlichte, klar entnehmen. Die publizistischen Hoffnungen blicken heute nach Frankfurt und München, wo junge Menschen um die Herausgabe eigener Blätter bemüht sind.

Könnte es noch einen Zweifel -*n den deutschen Jungkatholiken geben, so müßte ein Blick auf die Rockaufschläge junger Arbeiter sie zerstreuen, wo das kleine Silberkreuz blinkt. Diese sichtbare Hinwendung zur Religion ist _keine „Flucht vor der Wirklichkeit“, im Gegenteil, es gehört heute viel Wirklichkeitssinn, viel Mut und Überzeugung dazu, sich als Tatkatholik zu bekennen. Solche Jugend bedarf keines Lobes auf Vorschuß. Sie weiß um ihre Verantwortung und lebt danach. Darum gilt für sie nicht, das Urteil E. Wiecherts, sondern das Zeugnis Cardijns, des Gründers und Leiters des Weltbundes der christlichen Arbeiterjugend, der nach seiner Deutschlandreise bekannte, er habe viele junge katholische Männer angetroffen, die heute trotz Hunger und Not alles daransetzen, um die junge Welt des Arbeiters und der Arbeit mit dem Geiste Christi zu erfüllen. Und es gilt das Wort, das Theodor Haecker am 26. Mai 1940 in seine „Tag- und Nachtbücher“ schrieb: „Wenn man mir sagt, daß die heutige

deutsche Jugend, die offizielle, von den zweitausendfünfhundert Jahren christlicher und adventischer Geschichte nichts weiß, nichts wissen will und keineswegs begeistert werden kann, so weiß ich das, und es macht mich traurig. Wenn man mir aber sagt, daß unter ihr überhaupt keiner sei, der im Innersten davon berührt werde, dann werde ich heiter, denn das glaube ich nicht, denn das ist nicht wahr. Es gibt solche, und sie sind der Adel der deutschen Jugend. Sie werden unter einer Wolke leben, wie ich auch. Sie werden aber im Glänze eines unsterblichen Lichtes stehen, wie ich auch. Und sie werden es wissen, wie ich auch.“

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