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DER INTERNE KOLONIALISMUS

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Schon kurze Zeit, nachdem die sogenannte „Neue Welt" ins Gesichtsfeld Spaniens geraten war, wurde auch die Frage nach den Rechten der dort einheimischen Bevölkerung aufgeworfen. Waren die „Indianer" genannten Menschen wahrhaftige Eigentümer ihres Landes? War es legitim, die Herrschaft christlicher Könige in jenen Ländern aufzurichten?

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Schon kurze Zeit, nachdem die sogenannte „Neue Welt" ins Gesichtsfeld Spaniens geraten war, wurde auch die Frage nach den Rechten der dort einheimischen Bevölkerung aufgeworfen. Waren die „Indianer" genannten Menschen wahrhaftige Eigentümer ihres Landes? War es legitim, die Herrschaft christlicher Könige in jenen Ländern aufzurichten?

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„Macondo" heißt die Hauptstadt Lateinamerikas, „Macondo", der fiktive Ort, den der kolumbianische Dichter Gabriel Garcia Marquez weltbekannt gemacht hat. „Macondo" mag als Symbol für den lateinamerikanischen Traum von Einheit auf dem Subkontinent stehen. Die Erkenntnis heutiger lateinamerikanischer Denker und Dichter, daß diese Einheit, anders als 200 Jahre lang gedacht, nur aus kultureller Vielheit kommen kann, ist die Perspektive fürden Subkontinent über das 500-Jahr-Gedenken hinaus.

Nichts ist rückgängig zu machen. Unter Schmerzen wuchs und wächst, was das einigende Band in Lateinamerika allein sein kann: Der kulturelle Gesamt-Ausdruck, die cultura viva", die höchst lebendige und kraftvolle Symbiose, gespeist aus dem Zusammenleben indianischer, europäischer und afrikanischer Völker, in der regionalen Vielfalt doch lose zusammengehalten von den drei romanischen Sprachen Spanisch, Portugiesisch und Französisch. Nichts ist einfach daran, weil das Zusammenleben der Völker von jeher schwierig war, von Herrschaft und Unterdrückung, Zerstörung und Tod noch immer gezeichnet ist. Und dennoch: Die Lateinamerikaner beginnen selber, das hohe Maß an Schöpferkraft in ihrer Musik, ihren Tänzen, in der Literatur und in den Künsten zu begreifen.

Transkulturelles Lernen wird heute etwa in Kanada für Regionen mit mehreren Kulturen oder Ethnien gefordert. Die dabei entstehenden Symbiosen sind, je nach den ethnischen Besonderheiten unterschiedlich in den Ländern Lateinamerikas Wirklichkeit. Die „cultura viva" ist immer

auch eine „cultura del metizaje", Mischkultur, Mestizenkultur, verbunden, wie der Name sagt - was aber lange verdrängt worden ist - mit den vorkolumbianischen Hochkulturen ebenso wie mit den Indianerkulturen heute und dem afrikanischen Erbe, verschmolzen in Gewalt, aber auch freiwillig zu einer eigenständigen Kultursymbiose.

Gleichrangige Indianerkultur

Es ist dieses kulturell Gemeinsame in der Vielfalt, das allein eine supranationale Staatengemeinschaft auf dem Kontinent tragen könnte - anders als die primär wirtschaftliche Ausrichtung, welche die europäischen Staaten zusammenführt. Voraussetzung dafür ist allerdings die Anerkennung der Gleichwertigkeit in der kulturellen Vielheit. Im Klartext: Die sich gerne europäisch oder amerikanischdefinierende weiße Oberschicht und die junge Mittelschicht müßten sich nicht nur als anders, nämlich als regional kulturell geformt verstehen, sie müßten auch die Indianerkulturen als gleichrangig und vertraut sehen. Es muß hier hinzugefügt werden, daß dies in Lateinamerika auch heute noch kaum der Fall ist.

Der (1991 tödlich verunglückte) Mexikaner Guillermo Bonfil nennt die theoretischen Bedingungen für eine Vereinigung der lateinamerikanischen Länder. Er verlangt ein spezifisches kulturelles Entwicklungsmodell, dessen erste Voraussetzung die Abkehr von jener Staatslehre ist, die von Europa kommt. Nicht mehr sollen die Realitäten der lateinamerikanischen Länder dem napoleonischen Nationalstaatsverständnis angepaßt

werden, sondern die Staatslehre und Verfassungswirklichkeit muß sich in Zukunft nach den örtlichen Gegebenheiten, die überall multikulturell und multiethnisch sind, richten. (Wie schlecht heute die lateinamerikanischen Staaten für ihre Bürger funktionieren, ist offenkundig. Wie gut staatsferne Eigeninitiativen jedoch die Lebensqualität der Bürger ankurbeln, zeigt der Sozialwissenschaftler und Agrarexperte Gustavo Esteva für Mexiko. Daß dabei der Reichtum an Fähigkeiten und die Entschlossenheit der Frauen eine vorrangige Rolle haben, hat Claudia von Werlhof von der Universität Innsbruck für Bauernbewegungen in Venezuela gezeigt.)

Bevor die Erfüllung des Traumes von den vereinten Staaten Lateinamerikas gelingt, gilt es, jene Spaltung zu überwinden, die Guillermo Bonfil für Mexiko beschreibt, die Spaltung der südamerikanischen Gesellschaften in jeweils eine „imagina-ria" und eine „profunda". Die Rede ist von einer „eingebildeten", fremdbestimmten Gesellschaft, die sich an europäischen Vorstellungen orientiert und im Lebensstil eine schlechte USA-Kopie ist, die aber die „wirkliche", bodenständige Gesellschaft mit ihren Indianer-, Afrikaner- und Mischkulturen verleugnet. Bonfil nennt das den „internen Kolonialismus".

Marquez hat in seinem Roman „Hundert Jahre Einsamkeit" seinen Lesern in der Alten und in der Neuen Welt mit einem spanischen Wortspiel den Weg dazu gewiesen. Die Einsamkeit (soledad) des fremdbestjmmten Kontinents kann nur durch Öffnung und Vertrauen (solidaridad) durchbrochen werden.

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