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Der Wahrheitstest

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Zwar sind die schweizerischen Parlamentswahlen vom letzten Oktober längst vorbei, eben zieht sogar — quasi als Nachlese — der neue Bundesrat als Justizminister ins Gremium der Sieben ein, und die Gemüter sollten sich eigentlich längst wieder abgekühlt haben. Wenn dieses Jahr der übliche Zyklus nicht ganz eingehalten werden konnte, so ist das Fernsehen daran schuld, das in der Vielfalt seiner Struktur immer wieder Angriffsflächen für ideologische und persönliche Machtkämpfe bietet.

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Zwar sind die schweizerischen Parlamentswahlen vom letzten Oktober längst vorbei, eben zieht sogar — quasi als Nachlese — der neue Bundesrat als Justizminister ins Gremium der Sieben ein, und die Gemüter sollten sich eigentlich längst wieder abgekühlt haben. Wenn dieses Jahr der übliche Zyklus nicht ganz eingehalten werden konnte, so ist das Fernsehen daran schuld, das in der Vielfalt seiner Struktur immer wieder Angriffsflächen für ideologische und persönliche Machtkämpfe bietet.

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Im letzten Jahr war vor allem der Posten eines Abteilungsleiters für die Information hart umkämpft, bis ein früherer Parteisekretär der Sozialdemokraten auf diesen recht kritischen Thron erhoben wurde. Dann kamen die Auseinandersetzungen im Genfer Studio, die sogar in eine winzige „Streikwelle“ mündeten, und unter allem schwelte der Kampf um die Neuwahl des Generaldirektors, die kurz vor Weihnachten zugunsten des bisherigen Tes-siner Radiodirektors Stelio Molo entschieden wurde. Jetzt eben steht die Tagesschau unter Beschuß.

Die „Tagesschau“, die tägliche Informationssendung, untersteht nicht einer der drei Regionaldirektionen, die ja nach Sprachgrenzen ausgerichtet sind. Die Tagesschau ist quasi als vierte Größe daneben-gestellt, um von Zürich aus mit Redakteuren der drei Landessprachen allen drei Sprachprogrammen zu dienen. Diese etwas komplizierte Struktur ergab sich aus technischen und personellen Überlegungen heraus, doch entwickelten einzelne Regionaldirektionen gewisse Ubernahmegelüste.

Zweifellos gibt es objektive und sogar schwerwiegende Gründe, die für eine Aufsplitterung der Tagesschau und deren aufgeteilte Unterstellung unter die Regionen ins Feld geführt werden können. Zweifellos gibt es ebenso objektive und schwerwiegende Gründe für eine wirkliche Zentralisierung der Tagesschau. Bei dieser Sachlage ist es nur zu verständlich, daß die Debatte um das Für und Wider hohe Wellen schlägt.

Daß der Streit ausgerechnet jetzt in die kritische Phase eingetreten ist, liegt auf der Hand. Erstens einmal ist die bauliche Entwicklung der Zürcher Studios an einem Punkt angelangt, der definitive Entscheidungen — soweit Fernsehentscheidungen überhaupt je definitiv sein können! — erheischt. Zweitens aber hat eine vor langer Zeit eingesetzte Studiengruppe soeben ihren Bericht vorgelegt, so daß auch informationsmäßig die Grundlagen für einen Entscheid geschaffen sind. Der Bericht befürwortet die Zentralisierung. Diese Lösung wird von den italienischsprachigen Tessinern gutgeheißen, was verständlich ist, liegt Lugano doch schon rein geographisch etwas abseits der großen Nachrichtenströme und hätte das Tessiner Fernsehen wohl auch personell Schwierigkeiten, um einen eigenen Tagesschau-Dienst aufzubauen. Die französischsprachigen Westschweizer aber sind mehrheitlich für die Dezentralisierung, möchten sie diesen Apparat doch einfach etwas näher bei sich haben, wobei allerdings gewisse Regionen weit weg von Genf die Nachteile einer Zürcher Ausgabe nicht so hoch bewerten. Bleibt noch die deutschsprachige Schweiz: Sie war anfänglich für die Dezentralisierung, um so die Tagesschau ihrer eigenen Informationsabteilung unterordnen zu können; in der letzten Zeit sprach sie sich ebenfalls mehrheitlich für eine Zentralisierung aus, allerdings mit größerem Mitspracherecht der betreffenden Region.

Verurteilt muß dieser Kampf aber dann werden, wenn man um eines regionalen Vorteils willen bereit ist, die Einheit des Landes aufs Spiel zu setzen. Das mag etwas übertrieben oder gar nach patriotischem Appell klingen, aber man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, daß in der Detailfrage um die Tagesschau noch Kräfte am Werk sind, die auf ganz anderes zielen. So sprach sich zum Beispiel ein Fernsehabteilungsleiter dafür aus, daß der große finanzielle Radio- und Fernsehkuchen schlicht und einfach nach der Zahl der Zuhörer oder Zuschauer aufgeteilt werde. Das würde bedingen, daß ungefähr die Hälfte des ganzen Geldes der deutschsprachigen Schweiz zufließen müßte, von der anderen Hälfte die Mehrheit der Westschweiz, und der kleine verbleibende Rest sollte dem Tessin zugute kommen.

Sie übersieht aber noch ein staatspolitisches Element: daß die Schweiz ihre innere Einheit nur dank eines großen Maßes an Staatskunst wahren konnte, die den Minderheiten stets mehr zubilligte, als ihnen zahlenmäßig eigentlich zugekommen wäre. Dieses erhabene Prinzip würde durch einen solchen Fernsehentschluß, der jedoch glücklicherweise kaum Aussicht auf Erfolg haben dürfte, umgestoßen.

Zentrifugale Kräfte

Vor einigen Jahren erklärte Bundesrat Roger Bonvin, damals noch

Finanzminister, heute als Vorsteher des Eidgenössischen Verkehrsund Energiewirtschaftsdepartements oberster Herr über Radio und Fernsehen, in einem privaten Gespräch sehr richtig: „Ich sehe die Gefahr, daß das Fernsehen nicht etwa zur Einheit des Landes beiträgt, sondern vielmehr zu seiner Zersplitterung. Der Deutschschweizer wird sein politisches Verhalten mehr und mehr nach den ihm über das deutsche Fernsehen ins Haus gelieferten Maßstäben ausrichten, der Westschweizer wird sich nach Frankreich, der Tessiner nach Italien ausrichten. Die zentrifugalen Kräfte könnten dadurch in bedenklicher Weise gefördert werden.“

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