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Die Frage nach dem Ursprung des Bösen

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Das Böse gehört zu den Urerfahrungen der Menschheit. In den Mythen und Märchen der Völker, in der Kunst und Philosophie aller Zeiten meldet es sich zu Wort. In allen Bereichen seiner Existenz fühlt sich der heutige Mensch vom Bösen bedroht. Immer wieder neu ist die Frage nach Ursache, Wesen und Bewältigung des Bösen gestellt worden - mit stark divergierenden Antworten. Auch der Tübinger Altte-stamentler Herbert Haag sucht in seinem neuesten Werk „Vor dem Bösen ratlos?“ eine solche Antwort. Unser Mitarbeiter Gerhard Ruis nimmt sie unter die Lupe.

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Das Böse gehört zu den Urerfahrungen der Menschheit. In den Mythen und Märchen der Völker, in der Kunst und Philosophie aller Zeiten meldet es sich zu Wort. In allen Bereichen seiner Existenz fühlt sich der heutige Mensch vom Bösen bedroht. Immer wieder neu ist die Frage nach Ursache, Wesen und Bewältigung des Bösen gestellt worden - mit stark divergierenden Antworten. Auch der Tübinger Altte-stamentler Herbert Haag sucht in seinem neuesten Werk „Vor dem Bösen ratlos?“ eine solche Antwort. Unser Mitarbeiter Gerhard Ruis nimmt sie unter die Lupe.

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Herbert Haag, 1915 geboren, ist seit 1960 Professor für alttestamentliche Exegese an der Universität Tübingen. Schon 1969 veröffentlichte er ein schmales Bändchen „Abschied vom Teufel“. 1974 folgte das wissenschaftliche Werk „Teufelsglaube“. Sein neuestes Buch „Vor dem Bösen ratlos?“ (Piper-Verlag) beruht auf dem Wunsch, diese Thematik zu einer Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Bösen schlechthin auszuweiten.

Die entscheidende Frage, die Haag stellt, lautet: Wie läßt sich das Böse ohne Teufel erklären? Denn der Teufel ist für ihn ein ganz und gar untaugliches Mittel zur Erklärung des Bösen.

Er stellt zunächst fest, daß die modernen empirischen Wissenschaften den Begriff des Bösen gar nicht kennen. Selbst in der Kirche sei man äußerst vorsichtig und spreche Heber von einem „ethischen Vakuum“ als von „Sünde“.

Vor allem in der Psychoanalyse, der Verhaltensforschung, der Biologie und der Soziologie kann man feststellen, daß das Böse nur noch in einem anthropologischen und gesellschaftskritischen Zusammenhang gesehen wird. Hier herrscht auch ein ganz neues Vokabular: Begriffe wie Sünde, Schuld, Sühne und Erlösung wurden ersetzt durch Aggression, Frustration, Anomie, Dysfunktiona-lität, Devianz und Normabweichung.

Diese Wissenschaften haben zwei Antworten auf die Herausforderung durch das Böse. Nach den einen ist das Böse im Menschen selbst zu suchen, nach den anderen in seiner Umwelt. Zur ersten Gruppe gehört die Psychoanalyse und die Verhaltensforschung. Im anderen Lager stehen die Milieukritiker, die Marxisten, die Behavioristen, die Frustrationstheoretiker, die das Böse in der Umwelt des Menschen ansiedeln. Und dementsprechend werden auch die verschiedenen Rezepte zur Bewältigung des Bösen angeboten.

Wie steht es mit der Philosophie? War früher einmal das Böse der ureigenste Bereich der Philosophie, so schweigt sie heute oder erklärt, daß philosophische Erkenntnis Gottes nicht möglich, daß eine gesicherte Lehre der menschlichen Freiheit nicht zu erbringen seien, daß es heute keine universalen Deutungssysteme mehr geben könne.

Aber auch die Theologie sagt nach Ansicht Haags nichts Neues zur Thematik des Bösen. Es werde nur immer wiederholt: Gott ist am Bösen unbeteiligt, er läßt es zu, er will es aber nicht. Indem er dem Menschen die Freiheit gab, ist er das Risiko der Freiheit eingegangen und damit auch das Risiko des Bösen. Gott kann nicht der Urheber des Bösen sein. Er hat den Menschen gut geschaffen.

Diese Konzeption führt für Haag bei näherem Zusehen in die allergrößten Schwierigkeiten. Denn Gott könne auch in dieser Konzeption der Verantwortung nicht enthoben werden. Wer das Böse selber nicht tue, aber auch nicht verhindere, daß es getan wird, mache sich schuldig. „Gott hat den Menschen so konzipiert, daß das Böse unvermeidbar ist. Das bloße Zulassen des Bösen muß Gott belasten.“

Aber auch der Teufel als Urheber des Bösen ist für Haag keine Lösung. Er zitiert aus einer Predigt des Re-

gensburger Bischofs Graber: „Wenn es keinen Teufel gibt, dann hat Gott mit dem Menschen ein Scheusal Erschaffen, denn dann ist die ganze Hölle von Auschwitz reine Menschentat, und das können wir nicht akzeptieren, weil dann Gott ein Scheusal erschaffen hätte und ein solches Scheusal kann Gott nicht erschaffen haben.“

Dazu meint Haag: „Auch der Teufel ist ein Geschöpf Gottes; nach kirchlicher Lehre ein Engel, der gesündigt hat. Theologen behaupten, daß die

Sünde des Engels, die zum Sturz und zur Verwandlung in einen Teufel führte, die schwerste Sünde gewesen ist, die überhaupt auf Erden begangen wurde. Also hat Gott doch ein Scheusal erschaffen! Und wenn der Teufel in eigener Freiheit das Böse tun konnte, er, der nach theologischer Lehre einen viel stärkeren Willen und einen viel helleren Verstand als der Mensch hatte, wenn er in eigener Freiheit und ohne provoziert zu werden, das Böse tun konnte, wie sollte man dann in Zweifel ziehen, daß es auch der schwache Mensch

tun kann, ohne durch einen Teufel versucht zu werden.“ So wird man wieder auf die Freiheit des Menschen verwiesen und hier haben auch die größten Theologen nicht weiter gewußt.

Das Böse wird nur verständlich auf dem Hintergrund des Guten, dessen Urheber Gott ist. Thomas von Aquin erkühnt sich zur Aussage, die Haag als Motto über sein Buch gesetzt hat: „Wenn es das Böse gibt, gibt es Gott.“ Für Thomas ist das Böse nicht eine Manifestation der Abwesenheit, sondern der Anwesenheit Gottes.

Mit der Aufklärung tritt die menschliche Freiheit in den Mittelpunkt. Bei Kant und Hegel ist das Böse in der Freiheit des Menschen begründet, Hegel spricht allerdings vom gefährlichen Geschenk der Freiheit, das Gott dem Menschen gemacht habe.

Die Quintessenz des neuen Buches von Herbert Haag ist, „daß das Böse ein Element dieser Schöpfung ist, daß es nicht gegen Gottes Willen in diese Schöpfung hineinkam, wie herkömmlicherweise gelehrt wird, daß Gott eine Schöpfung wollte, in der es das Böse gibt. Daß das Böse vom Anfang an in diese Schöpfung miteingeplant war, daß Gott letztlich für das Böse in der Welt verantwortlich ist, insofern, als er eben die Geschöpfe unter Gesetze gestellt hat, nach denen das Böse aus der Schöpfung nicht wegzudenken ist und nie weggedacht werden kann“.

„Für die Bibel ist das Böse, was das Leben bedroht“

Diese Sicht finde ihre volle Bestätigung in der Heiligen Schrift. Für die Bibel ist immer das Böse, was das Leben bedroht. Haag sieht das Böse zuletzt auch im Kontext der Evolution. Wenn das Böse ein Angriff auf das Leben ist, dann ist es ein Stück Tod. Und Tod ist aus einer evolutiven Welt nicht wegdenkbar. Und nach der Lehre Jesu müssen „gut“ und „bös“ bis zum Ende der Welt koexistieren. Jesus verbiete geradezu die Bekämpfung des Bösen. Nach der Lehre Jesu könne man das Böse nur dadurch bekämpfen, daß man es nicht bekämpft. Das heißt nun nicht, daß der Christ das Böse passiv hinnehmen soll, im Gegenteil: er sollte stärkere Gegenkräfte entwickeln. Das unterscheidend Christliche müßte sich gerade darin zeigen, wie der Mensch mit dem Bösen umgeht.

VOR DEM BOSEN RATLOS? Von Herbert Haag. Piperverlag, München 1978, öS 262,-

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