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Die große Krisen-Angst

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Eine fast schon vergessene Konjunktur-Theorie wird heute in der Wallstreet wieder mit großer Leidenschaft diskutiert: die langen Konjunkturwellen von Nikolai Dimitrejewitsch Kondra-tieff, einem russischen Wirtschaftstheoretiker der zwanziger Jahre, der später von den Sowjets aus ideologischen Gründen nach Sibirien verbannt wurde. Kondratieffs Hauptthese ist, daß die Wirtschaftsentwicklung in ihrem Auf und Ab durch „lange Wellen'' in einem Rhythmus von 54 bis 60 Jahren bestimmt wird.

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Eine fast schon vergessene Konjunktur-Theorie wird heute in der Wallstreet wieder mit großer Leidenschaft diskutiert: die langen Konjunkturwellen von Nikolai Dimitrejewitsch Kondra-tieff, einem russischen Wirtschaftstheoretiker der zwanziger Jahre, der später von den Sowjets aus ideologischen Gründen nach Sibirien verbannt wurde. Kondratieffs Hauptthese ist, daß die Wirtschaftsentwicklung in ihrem Auf und Ab durch „lange Wellen'' in einem Rhythmus von 54 bis 60 Jahren bestimmt wird.

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Nicht nur in den Vereinigten Staaten glauben heute viele, daß die siebziger Jahre gemäß der These von N. D. Kontratieff zu einer Neuauflage der hektischen zwanziger Jahre werden könnten. Vor allem das Jahr 1974 wird mit dem Jahr 1920 verglichen. Der Höhepunkt eines Zyklus wird jeweils von einer starken Inflationsphase während oder nach einem Krieg erreicht. Das sei 1920 nach dem Ersten Weltkrieg der Fall gewesen. In den siebziger Jahren sei es die inflationäre Entwicklung nach dem Krieg in Vietnam. Was in Wallstreet so besonders beunruhigt, ist laut „Business Week“, daß nach Kondratieff jetzt bald ein Zusammenbruch der Rohstoffpreise zu erwarten wäre.

Der belgische Wirtschaftswissenschaftler Leon Hugo Dupriez hat schon vor längerer Zeit prophezeit, daß ' möglicherweise 1970/71 der Höhepunkt eines langfristigen Aufschwungs gewesen sei und nun — im Sinne der sogenannten „Langen Wellen“ von Kondratieff — für die nächsten zwanzig bis dreißig Jahre die Entwicklung nach unten gehen wird.

Und auch Politiker, gewöhnlich zum Optimismus verpflichtet, ahnen — so der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt — „eine apokalyptische Entwicklung der Weltwirtschaft“. Eine solche Entwicklung zu vermeiden, sei eine „staatsmännische Aufgabe von so hohem Rang, daß lediglich die Erhaltung des Weltfriedens noch höher einzuschätzen ist“.

Der ehemalige österreichische Finanzminister und spätere Harvard-Professor. Joseph Schumpeter entwickelte durch das Zusammenspiel des wirtschaftlichen Erneuerungsprozesse (Innovationen), der beschleunigten Ausnützung der Investitionsgelegenheiten durch dynamische Unternehmer und der Kreditexpansion einen Zyklus der Marktwirtschaft. Mit der Entwicklung eines Schemas der Überlagerung mehrerer Konjunkturzyklen von verschiedener Länge (der sogenannten „Kitchin“-Zyklen von dreieinhalb Jahren, der „Juglar“-Zyklen von acht bis zehn Jahren und schließlich der „Kondratieff'-Zyklen von 54 bis 60 Jahren) hat er eine übersichtliche Ordnung in das empirische Material gebracht und es auf diese Weise für eine seriöse Analyse geeignet gemacht.

Der erste Kondratieff-Zyklus wird für die Zeit zwischen 1783 und 1842 beobachtet, eine Periode, die generell als die Zeit der „industriellen Revolution“ bezeichnet wird. Der zweite Kondratieff-Zyklus zwischen 1842 und 1897 wird als das Zeitalter von Dampfkraft und von Stahl bezeichnet, speziell aber als das Zeitalter der weltweiten Verbreitung der Eisenbahn (mit der die Industrialisierung der USA erst möglich gemacht wurde). Der dritte „lange“ Kondratieff-Zyklus in der wirtschaftlichen Entwicklung wurde schließlich von Elektrizität, Chemie und Autos eingeleitet

Was nun den vierten Kondratieff-Zyklus betrifft, was ihn ausgelöst hat oder jetzt eben auslöst, ist schwer zu beschreiben: vielleicht der Übergang auf die Atomkraft, die Erfindung neuer Technologien zur Lösung der Energie-Krise, der Probleme des Umweltschutzes und der durch die Verknappung einzelner Rohstoffe entstehenden Versorgungsprobleme? Heute können wir das noch nicht präzise angeben.

Der „klassische Konjunkturzyklus“ in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg war grundsätzlich durch eine periodische Wiederkehr von krisenhaften Absatzstockungen gekennzeichnet, mit Produktionsrückschlägen, Arbeitslosigkeit, Einkommens-schrurnpfung, Preisverfall und zumeist auch finanziellen Zusammenbrüchen. Erst nach längerer Zeit konnte sich jeweils das Wirtschaftsleben wieder erholen und einen neuen Aufschwung nehmen. Die Entwicklung erfolgte mehr oder weniger zyklisch in der Aufeinanderfolge charakteristischer Phasen: Prosperität, Krise, Depression, Erholung. Die typische Gesamterscheinung dieser Bewegung repräsentiert der Konjunkturzyklus als sogenannter Normalzyklus mittlerer Dauer, also in „Juglar“-Wellen von acht bis zehn Jahren.

Ein Kondratieff-Zyklus umfaßt etwa sieben „Juglar“-Wellen. Innerhalb der drei bisher beobachteten langwelligen Kondratieff-Zyklen ereignete sich jeweils eine außerordentlich schwere Wirtschaftskrise: 1825, 1873 und 1929, also in Abständen von rund fünfzig Jahren. Wären Kondratieff-Zyklen und große Wirtschaftskrisen zwangsläufige Ereignisse, dann müßte die nächste außerordentlich schwere Wirtschaftskrise Anfang der achtziger Jahre erfolgen.

Ohne Zweifel spielt sich der moderne Konjunkturverlauf nach dem Zweiten Weltkrieg anders ab, als im ersten Drittel dieses Jahrhunderts. An Stelle der Krisen alten Stils mit auch stärkeren absoluten Rückgängen sind relative Schwankungen der wirtschaftlichen Globalgrößen (Produktion, Beschäftigung und Einkommen) getreten. Konjunkturen waren demnach nach Ende des Zweiten Weltkrieges Schwankungen im Tempo des Wirtschaftswachstums. Dabei waren vor allem die Schwankungen der Beschäftigung und der Preise nur wenig ausgeprägt.

Seit Beginn der siebziger Jahre kennen wir das Phänomen der sogenannten „Boomfiation“, also ungebrochene Wachstumsraten bei relativ hohen Inflationsraten. Nun, 1974, scheint es, als entwickelte sich die „Boomfiation“ in Richtung einer „Stagflation“, also wirtschaftliche Stagnation bei ebenfalls hohen Inflationsraten. Diese Phänomene waren in den „modernen“ Konjunkturverläufen nach Ende des Zweiten Weltkrieges nicht bekannt. Deshalb wäre es problematisch, eine für den Beginn der achtziger Jahre prognostizierte schwere Weltwirtschaftskrise auszuschließen, weil sie mit der (bis 1970) „neuen“ Erscheinungsform der Konjunktur nicht vereinbar ist.Die Qualität der wirtschaftlichen Konjunktur hat sich in den letzten vier Jahren so enscheidend verändert, daß man mit dem Hinweis, man hätte seit der Keynes'schen Revolution das richtige Instrumentarium zur Beseitigung von unerwünschten konjunkturellen Erscheinungen, wie zunehmende Arbeitslosigkeit, Produktionsrückgang und hohe Inflationsraten, nicht mehr auskommt.

„Um Konjunkturzyklen verstehen zu können“, schreibt Joseph Schumpeter, „müssen wir zuallererst historische Erfahrungen über die Art, wie das Wirtschaftsleben auf politische Störungen reagiert, sammeln“.

Politische Störungen als zentrale Quelle konjunktureller Einbrüche weist Schumpeter am Beispiel der wirtschaftlichen Entwicklung In einigen Staaten nach. So zeigt der Verlauf der Weltwirtschaftskrise 1931,daß es noch wenige Monate vor ihrem Ausbruch etwa in Deutschland unverkennbare Zeichen einer wirtschaftlichen Aufwärtsbewegung gegeben hat. Der Rückschlag erfolgte plötzlich im Verlauf einer Diskussion über die Bildung einer Union zwischen Deutschland und Österreich und den damit zusammenhängenden Veränderungen der Zahlungsbilanzdefizite.

Die heikle Zahlungsbilanzsituation begann im Deutschland der dreißiger Jahre durch die Methode, die rasch steigenden öffentlichen Ausgaben über Auslandsanleihen zu finanzieren. Schumpeter spricht davon, daß die schwere deutsche Wirtschaftskrise der Jahre 1931/32 „nicht nur oberflächlich, sondern eher grundlegend politisch bedingt war“.

Nicht minder politisch bedingt sind aber auch die binnen kurzer Zeit rapid gewachsenen Zahlungsbilanzdefizite der meisten westlichen Industriestaaten und der Entwicklungsländer in den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts. So wird Italien, von schweren politischen Krisen geschüttelt, 1974 für rund 80 Milliarden Schilling mehr Güter und Dienste im Ausland kaufen, als seine Exporteure auf dem Weltmarkt absetzen. Die Italiener haben damit doppelt so viele Schulden bei ihren Handelspartnern wie 1973. England wird von rund 57 Milliarden Schilling auf rund 125 Milliarden Schilling Defizit rutschen; und Japan, dessen Zahlungsbilanz über Jahre hinweg ein Plus aufwies, gerät 1974 mir rund 160 Milliarden Schilling in die roten Zahlen.

Eine — politisch bedingte — drastische Verteuerung der Rohstoffe, nicht nur des Erdöls, hat die meisten Länder an den Rand der Kreditwürdigkeit getrieben. Sie können mit ihren Exporten nicht mehr die Milliarden-Summen verdienen, die ihnen heute für Rohöl, Kupfer und Eisenerz in Rechnung gestellt werden.

In den dreißiger Jahren führten rasch steigende Zahlungsbilanzdefizite zu einem Abwertungs-Wettlauf bei den Währungen. England wollte sich seinerzeit damit als erstes Land Vorteile erstreiten. Diese Vorteile waren im Zuge einer Abwertungs-Hysterie bald dahin.

1974 griff Italien zu einer nicht minder problematischen Methode, das Zahlungsbilanzdefizit zu. reduzieren. Es erschwerte die Einfuhren von Agrar- wie Industrieerzeugnissen und gefährdete damit Arbeitsplätze in Frankreich und in Deutschland und damit die immer wieder beschworene europäische Solidarität.

Jeder Rückfall in den Nationalismus müßte Armut über alle bringen. Nach den italienischen Importbeschränkungen, so fürchten Experten, könnte im Zuge der Zahlungsbilanzdefizite, der weltweiten Abnahme von Währungsreserven und des fortgesetzten Anschwellens des Euro-Dollar-Marktes — auf ihm sollen Ende 1974 rund 3500 Milliarden Schilling umlaufen — plötzlich das hochempfindliche Maschennetz der internationalen Kapitalverflechtungen —die Grundlage eines florierenden Welthandels — zerrissen werden. Denn würde eine der großen Banken in Zürich, London,, Brüssel oder Luxemburg in Schwierigkelten geraten, weil ihr wegen der tristen wirtschaftlichen Situation ihres Heimatlandes niemand mehr etwas borgt, dann könnte der gesamte Euro-Dollar-Markt plötzlich in sich zusammenbrechen — ein weltweites Finanzchaos wäre Wirklichkeit.

Das Gespenst einer Wirtschaftskrise ä la Kondratieff ist also tatsächlich nicht aus der Mottenkiste der ökonomischen Theorie herbeigeholt. Der wirtschaftliche Wohlstand der westlichen Welt war in den letzten dreißig Jahren nie so gefährdet wie jetzt. Hoffentlich hat sich die ökonomische und politische Vernunft in den letzten Dezennien doch so weit entwickelt, daß Krisenabwehr bzw. -beseitigungspläne im Fall des Falles prompt eingesetzt werden und auch funktionieren.

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