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Die Heimatlosen mit dem Doktor-Titel

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Am Anfang waren es noch Flüchtlinge im „klassischen Sinn", die Araber Palästinas, die 1948 durch Gewalt, Einschüchterung und eine stupide nationalistische Propaganda zur Flucht getrieben wurden. Doch die Palästinenser versuchten etwas aus ihrem Flüchtlingsschicksal zu machen, konzentrierten sich auf die A usbildung und stellen heute in der arabischen Welt das Volk mit dem höchsten Bildungsniveau dar. A ufihrem mühsamen, nun schon über dreißig Jahre lang währenden Weg zu den gebildetsten Arabern stand ihnen die ÜNWRA zur Seite, das jetzt in Wien ansässige Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge. Doch möglicherweise kann die UNWRA ihre Erziehungs- und Ausbildungsfunktionen nicht mehr allzu lange wahrnehmen: Eine finanzielle Krise bedroht das Hilfswerk.

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Am Anfang waren es noch Flüchtlinge im „klassischen Sinn", die Araber Palästinas, die 1948 durch Gewalt, Einschüchterung und eine stupide nationalistische Propaganda zur Flucht getrieben wurden. Doch die Palästinenser versuchten etwas aus ihrem Flüchtlingsschicksal zu machen, konzentrierten sich auf die A usbildung und stellen heute in der arabischen Welt das Volk mit dem höchsten Bildungsniveau dar. A ufihrem mühsamen, nun schon über dreißig Jahre lang währenden Weg zu den gebildetsten Arabern stand ihnen die ÜNWRA zur Seite, das jetzt in Wien ansässige Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge. Doch möglicherweise kann die UNWRA ihre Erziehungs- und Ausbildungsfunktionen nicht mehr allzu lange wahrnehmen: Eine finanzielle Krise bedroht das Hilfswerk.

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Das Jahr 1948 verhieß nichts Gutes für die arabischen Bewohner Palästinas: Sie sahen sich von der durch Einwanderung rapide wachsenden jüdischen Bevölkerung immer mehr ins Eck gedrängt. Auch schienen die Juden fest entschlossen, hier ihren eigenen Staat zu gründen und ihn mit allen Mitteln zu verteidigen.

Die Grundsteine für diesen jüdischen Staat waren ja auch größtenteils schon gelegt: einmal gab es die Balfour-Deklaration von 1917, so benannt nach dem damaligen britischen Außenminister. In ihr war festgehalten, daß die britische Regierung „die Schaffung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk mit Wohlwollen betrachtet..."

Zum anderen gab es den Teilungsplan der Vereinten Nationen vom November 1947, in dem fixiert war, wie eine Föderation zwischen einem jüdischen und einem arabischen Staatsteil in Palästina aussehen könnte.

Die Araber lehnten den UN-Teilungsplan mehr oder weniger strikt ab: In ihren Augen waren die Zionisten nichts weiter als eine Manifestation des Kolonialismus und ihrer Meinung nach war ein jüdischer Staat nur dazu da, die Homogenität der arabischen Welt zu zerstören. Also galt es, die Eindringlinge wieder zu vertreiben.

Mit der Aufrüstung der arabischen Staaten, mit ihrer Vorbereitung auf einen „Krieg gegen die Zionisten" einher ging ein Propagandafeldzug. Aus den Radiolautsprechern tönten aber nicht nur arabisch-nationalistische Parolen:

Radio Kairo forderte die arabischen Bewohner Palästinas zur Flucht auf. Denn in einem menschenleeren Raum könnten die arabischen Truppen wirkungsvoller operieren.

Jüdische Kampforganisationen wiederum taten das Ihre, um die arabischen Bewohner zur Flucht zu bewegen. Am 9. April 1948 richteten sie im arabischen Dorf Deir Yassin ein regelrechtes Massaker unter den Bewohnern an: 245 Araber wurden niedergemetzelt, darunter auch 35 schwangere Frauen.

„Deir Yassin" wurde zu einem Schreckenswort unter den palästinensischen Arabern und noch heute ist es für sie Symbol des tiefen Haßgefühls über die Einschüchterung, letztendlich die Vertreibung aus ihrem Land.

Bis zum 14. Mai 1948, dem Tag der Proklamation des Staates Israel, hatten bereits 300.000 Araber ihre Heimstätten in Palästina verlassen. Nach dem Angriff arabischer Truppen auf den neuen Staat flüchteten weitere 350.000; ein Teil von ihnen wurde auch echt vertrieben.

1950 registrierten UN-Organe über 900.000 Palästinenser, die der arabisch-israelische Krieg von 1948 zu Flüchtlingen gemacht hatte. Rund 750.000 davon waren bedürftig bezie-

hungsweise suchten um Unterstützung an.

Noch glaubten die Palästinenser, die mehrheitlich, in Flüchtlingslagern in West- und Ostjordanien, im Libanon, Syrien und im von Ägypten verwalteten Gaza-Streifen dahinvegetierten, daß sie bald wieder heimkehren könnten. Schließlich hatte ja auch die UNO schon im Dezember 1948 in einer Resolution das Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr in ihre Heimat festgehalten.

Doch die israelische Regierung weigerte sich, die Grenzen des Staates für eine größere Zahl von Heimkehrern zu öffnen. Sie argumentierte, daß dadurch der. jüdische Charakter des Staates zerstört würde.

Für die arabischen Aufnahmeländer andererseits wurden die mit Hunderttausenden mittellosen Palästinenserfamilien überfüllten Lager natürlich zusehends zu einem internen Problem. Den Flüchtlingen ließen sie nur minimale Hilfe zukommen, obwohl einige von ihnen 1948 durch ihre Propaganda mit dazu beigetragen hatten, daß es überhaupt zum Massenexodus der Palästinenser gekommen war.

Dennoch: die Hände wurden (und werden) von den arabischen Staaten in Unschuld gewaschen: Der Westen habe durch die Anerkennung des Staates Israel das Palästinenser-Problem erst geschaffen, also sei es auch seine Sache, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.

Die rund 650.000 Palästinenser wiederum, dieum 1950in Flüchtlingslagern lebten, widersetzten sich größtenteils Versuchen, sie umzusiedeln. Sie blieben in den armseligen Zeltbehausungen in ihren Lagern, weil sie befürchteten, daß eine Niederlassung in ständigen Unterkünften ihnen als Zeichen dafür ausgelegt werden könnte, daß sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden hätten und daß sie dadurch ihren Anspruch auf Rückkehr verlieren würden.

Um die Palästina-Flüchtlinge hatten sich schon während der Kampfhandlungen 1948 internationale Wohltätigkeitsorganisationen gekümmert. Aus Mitteln des „Hilfsfonds der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge" (UNRPR) wurden diese schließlich in den Lagern mit dem Nötigsten versorgt - Lebensmitteln, Kleidern, Zelten, Decken und medizinischer Betreuung.

Der UNO war nicht entgangen, daß mit einer Rückkehr der Flüchtlinge in ihre alte Heimat durch die äußerst komplizierte politische Situation nicht so bald gerechnet werden konnte. Im Dezember 1949 gründete die UN-Ge-neralversammlung deshalb das „Hilfswerk der Vereinen Nationen für Palästina-Flüchtlinge" (UNWRA = United Nations Relief and Works Agency), eine nichtständige Organisation, die am 1. Mai 1950 die Arbeitdes UNRPR übernahm.

Der Auftrag der UNWRA lautete: in Zusammenarbeit mit den örtlichen Regierungen Unterstützungs- und Aufbauprogramme für die Flüchtlinge durchzuführen, die durch den arabischisraelischen Konflikt heimat- und arbeitslos geworden waren.

Seit die UNWRA ihre Arbeit begonnen hat, sind inzwischen mehr als 30

Jahre vergangen. Dazwischen gab es drei weitere kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Arabern (1956, 1967, 1973). Und weitere Tausende, ja Hunderttausende Palästinenser verloren Haus und Habe, wurden in die Flucht getrieben.

In diesen 30 Jahren änderten sich nicht nur das politische Profil, die Machtkonstellationen im Nahen Osten wesentlich, auch die Palästinenser selbst machten grundsätzliche Veränderungen mit. Und heute stellt der Fall der Palästina-Flüchtlinge auch kein „klassisches" FJüchtlings-Problem dar.

Was ist das Palästinenser-Problem dann? Der britische liberale Parlamentarier Lord McNair, der für die Parlamentarische Versammlung des Euro-parates in Straßburg im heurigen September einen Bericht über die Palästina-Flüchtlinge und die Arbeit der UNWRA zusammenstellte, hält darin fest:

„Es scheint mir dies ein Fall von massivem Heimweh, von völkischer

Nostalgie zu sein. Diese Menschen sind durch und durch erfüllt vom Gefühl der ungerechten Vertreibung, sind durch das Fehlen einer nationalen Identität traumatisiert und sehnen sich danach, eine zu erlangen."

Aber nicht nur die Palästinenser machten die Entwicklung von klassischen Flüchtlingen zu sehnsüchtig nach einer nationalen Identität strebenden Heimatlosen durch, auch die UNWRA wurde von einer typischen Flüchtlingshilfsorganisation zu einer Institution, die in ihren Einsatzgebieten heute quasi Regierungsfunktionen wahrnimmt:

Durch natürlichen Bevölkerungszuwachs ist die Zahl der Palästina-Flüchtlinge inzwischen auf 1,8 Millionen angewachsen, die bei der UNWRA registriert sind. Davon leben rund 650.000 noch immer in Lagern, freilich unter weit besseren Bedingungen als in den Jahren der Kriege und der Vertreibung. Die Zeltlager sind in den meisten Fällen

festen Unterkünften gewichen, die Lager haben vielfach Vororte-Charakter bekommen.

Nicht mehr Notstandshilfe steht deshalb heute an erster Stelle der UNWRA-Programme, sondern Erziehung, Gesundheit- und Fürsorgedienste. Dabei fließt mehr als die Hälfte des Geldes, das der UNWRA zur Verfügung steht, in Erziehungs- und Unterrichtsprogramme.

Was zu dieser Entwicklung geführt hat, erklärte ein Palästinenser selbst: „Als wir unser Land, unsere Wohnstätten und Mitglieder unserer Familien verloren, lernten wir den Wert der Erziehung und Bildung zu schätzen. Es war alles, was wir behalten konnten."

Die Folge davon: 1976 waren laut einer Statistik elf Prozent der Akademiker in der arabischen Welt Palästinenser, obwohl diese nur 2,2 Prozent der arabischen Nationen ausmachen. Dieser Prozentanteil an Akademikern hat sich bis heute gewiß noch weiter erhöht.

Die UNWRA hat wesentlich dazu beigetragen, daß die Palästinenser dieses hohe Bildungsniveau erreichen konnten. 1979 etwa unterhielt das Hilfswerk im Libanon, Syrien, Jordanien, Westjordanland und im Gaza-Streifen nicht weniger als 627 Volksund Hauptschulen. An sieben Berufsschulen der UNWRA standen jungen Palästinensern 3460 Ausbildungsplätze zur Verfügung.

Insgesamt 314.000 palästinensische Kinder genossen 1979 in UNWRA-Schulen ihre Grundschulausbildung, wobei die Zahl jedes Jahr um rund 10.000 zunimmt.

Allein an diesen Zahlen kann man ermessen, wie wichtig die Arbeit der UNWRA ist und daß sie in der Tat einen „stabilisierenden Faktor" im Nahen Osten darstellt, wie UNWRA-Ge-neral-Kommissar Olof Rydbeck vor kurzem vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates feststellte.

Jedoch: Schon ehebaldigst könnte die UNWRA aufhören, dieser stabilisierende Faktor in der Region zu sein. Der Grund dafür: Seit Jahren steckt das Hilfswerk in einer schweren finanziellen Krise, steigt das Budget-Defizit, sind Erziehungsprogramme von der Einstellung bedroht.

Großzügigste Zahler in das UNWRA-Budget waren bis jetzt immer die Vereinigten Staaten, mit beträchtlichem Abstand folgen Großbritannien, Schweden, Kanada, die Bundesrepublik Deutschland, Japan und andere westliche Länder. Auch die

Europäische Gemeinschaft griff der UNWRA mit finanziellen und Sachmittelspenden unter die Arme. Die westlichen Länder steuern alles in allem rund 80 Prozent zum UNWRA-Budget bei.

Wer bis jetzt überhaupt nicht gezahlt hat und auch keine Anstalten macht, der UNWRA in Zukunft finanziell beizustehen, sind die Sowjetunion und ihre osteuropäischen Satelliten - aus reinem politischen Opportunismus, wie's scheint. (Hoffentlich wird diese Tatsache allen bei der UNWRA registrierten Flüchtlingen auch vor Augen geführt.)

Nur wenig, nämlich rund drei Prozent des UNWRA-Budgets, kommt aus den arabischen Ländern. Immerhin, in einigen der reichen arabischen ölstaaten scheint aber doch ein gewisser Gesinnungswandel eingetreten zu sein.

Für das Budget 1980 leisteten Irak, Kuwait, die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudiarabien Sonderzahlungen.

Für das Budget 1981, mit 231 Millionen Dollar veranschlagt, fehlen noch 70 Millionen Dollar. Falls dieses Geld nicht noch aufgetrieben wird, ist General-Kommissar Rydbeck zu massiven Einsparungen gezwungen.

Rydbeck zieht zwei Möglichkeiten in Betracht: Entweder er schließt im Februar 1981 die 308 UNWRA-Schulen in Jordanien und Syrien, wovon 170.000 palästinensische Flüchtlingskinder betroffen wären.

Oder aber er läßt alle 627 UNWRA-Schulen im Einsatzgebiet bis Juni 1981 offen und hofft, bis dahin zusätzliche Beiträge zu erhalten. Bleiben diese aus, müßten alle UNWRA-Schulen geschlossen werden, betroffen davon wären 320.000 Kinder im Alter bis zu 15 Jahren.

Betroffen wären aber auch um die 9500 UNWRA-Lehrer, alles Palästinenser. Warnt General-Kommissar Rydbeck: „Man braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, was mit den 300.000 palästinensischen Flüchtlingskindern ohne Schulen und mit Tausenden palästinensischen Lehrern ohne Anstellung passieren könnte..."

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