Verschwörungsmythen: Ohnmacht macht dumm

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Wie es dazu kommen konnte, dass „Wahrheit“ in den Strudel paranoider Machtlosigkeitserfahrung geriet – und warum wir uns mit „Impfschwurblern“ beschäftigen müssen. Ein Gastkommentar.

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Wie es dazu kommen konnte, dass „Wahrheit“ in den Strudel paranoider Machtlosigkeitserfahrung geriet – und warum wir uns mit „Impfschwurblern“ beschäftigen müssen. Ein Gastkommentar.

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Wahrheit ist nicht bloß vernünftiges Bewusstsein, sondern auch dessen Gestalt in der sozialen Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit und Rationalität sind verflochten, konstatierten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno am Nationalsozialismus. Der sei kein Atavismus, meinten sie, sondern Folge der Moderne. Nachfolger wandten die Diagnose auf die Wirtschaftswunderzeit an und stellten ihre Wissenschaftlichkeit unter den Generalverdacht, Produkt einer in technischen Fortschritt entgleisten Aufklärung zu sein. Statt Aufklärung ein Komplott gegen ihre emanzipatorischen Versprechen.

Diese Diagnose ist falsch – ihre Idee jedoch bedenkenswert. Unfreiheit kann Wahrheit kontaminieren, wie sowohl der Nationalsozialismus als auch der Stalinismus zeigten. Umgekehrt kann das Abstempeln einer Gesellschaft als unfrei unsere Vorstellung davon, was vertrauenswürdig oder Propaganda ist, erschüttern. Je mächtiger Systeme der Gesellschaft werden und auf unsere persönliche Lebenswelt einwirken, umso mehr steigt die Gefahr, dass wir uns als ohnmächtig erleben. Das führt nicht nur zu Apathie, sondern kann auch unser Bewusstsein dafür, was wir für wahr halten, radikal umkehren. Als wahr Verbreitetes erscheint dann als Lüge und Teil einer Verschwörung.

Der Staat als Gefängnis

In „Die neue Unübersichtlichkeit“ beschrieb Jürgen Habermas die Bürger sozialstaatlich geprägter Demokratien als Klienten der Wohlfahrt eines interventionistischen Staates, der ansetze, neue Lebensformen mit einem immer dichteren Netz rechtlich-bürokratischer Mittel hervorzubringen. Der Wohlfahrtsstaat verbrauche eine Menge des Mediums Macht. In ihm habe nicht bloß die Wirtschaft, sondern auch die Gouvernementalität ihre Unschuld verloren. Das produziere industriegesellschaftliche Dissidenten. Diese nehmen den modernen Staat als das Gefängnis wahr, wie ihn Michel Foucault – mit undifferenziertem Macht- und Gewaltbegriff – suggestiv in „Überwachen und Strafen“ beschrieb.

Eingriffe in die individuelle Lebenswelt rechtfertigt der moderne Staat mit Planungsleistungen und wissenschaftlicher Expertise. Wo der Wohlfahrtsstaat unter den Verdacht des schön getarnten Gefängnisses gerät, wird auch Wissenschaft als Herrschaftsinstrument erlebt, die nicht der Wahrheit, sondern den Übermächtigen diene. Bedenkt man den prekären Status unserer wissenschaftlichen Weltauffassung, ist das kein Wunder. Schicke Modernekritik wie im Neostrukturalismus befeuert das.

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