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Eine doppelbödige Moral

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„Schützt das Leben”, argumentiert die Friedensbewegung. Sind mit diesem Schutz auch die Ungeborenen gemeint? „Frieden ist nicht, wenn Babies aus angeblich sozialen Gründen im Mutterleib getötet werden”.

Als ich diesen Satz beim Ostermarsch ‘83 in Köln vor 50.000 Anhängern der Friedensbewegung sagte, gab es ein minutenlanges Pfeifkonzert. Danach erhielt ich viele Briefe. Viele Teilnehmer bedankten sich, andere sprachen yon Entgleisung, Irrtum und falsch verstandener Moral. Ich wußte bis dahin gar nicht, wie viele „Gründe” es gibt, einen Menschen zu töten.

Mir fiel auf, daß manche Anhänger der Friedensbewegung, wenn es um Abtreibung geht, ähnlich blind und inhuman argumentieren wie manche Militärs und Politiker, wenn sie Atombomben zur Friedenssicherung rechtfertigen. Abtreibungsbefürworter weisen immer darauf hin, daß ja niemand einen Abbruch mit Freude vornehmen lasse. Das ist die Parallele zum Argument der Nachrüster: Atomare Rüstung mache natürlich keine Freude, aber leider zwingen die Umstände, gemeint sind die Sowjets, dazu. Des einen soziale Notlagen sind des anderen die Sowjets.

Theoretisch sind die Nachrüster so für Abrüstung, wie Befürworter der Abtreibung für Gewalt- losgkeit sind. Praktisch tun jedoch beide das Gegenteil. Und an Ausreden fehlt es keinem. Wer abrüsten will, muß abrüsten, und wer für Gewaltlosigkeit ist, kann nicht für gewaltsamen Schwangerschaftsabbruch sein; er sollte vielmehr alternative, gewaltfreie

Schwangerschaftskonfliktlösungen fördern und die Ursachen der Abtreibung zu beseitigen suchen.

Abtreibung hat sowenig mit wahrhafter Emanzipation zu tun wie Atombomben mit wahrhaftem Frieden.

Die eigentliche Sünde unserer Zeit ist unser fehlendes Sündenbewußtsein. Wir töten, und wir bereiten den Untergang der Menschheit mit bestem Gewissen vor. Diese mangelnde Sensibilität gegenüber dem Bösen macht Umdenken und Umkehr fast unmöglich.

Wie will die Friedensbewegung auf Dauer und glaubhaft eine Bewegung der Gewaltlosigkeit sein, aber schweigen zur Gewalt in Form massenhafter Abtreibung? Jede Manipulation am Leben ist Sünde und damit inhuman. Die Manipulation am individuellen ungeborenen Leben ebenso wie die massenhafte Manipulation durch die immer wahrscheinlicher werdende Vernichtung der Menschheit.

Friedensbewegung und christliche Kirchen sind einander trotz taktischer Annäherung noch immer in vielem fremd. Das wird sich in diesem Herbst erweisen. Die Kirchen stehen zwar an der Spitze beim Kampf für das ungeborene Leben, aber zögern noch immer, die Massenvernichtungswaffen ohne Wenn und Aber zu ächten.

Die Friedensbewegung ist zwar für ein Nein ohne jedes Ja zu Mas senvernichtungswaffen, aber diskutiert viel zuwenig die Ursachen des Unfriedens. Raketen sind nicht die Ursachen der heutigen Menschheitsgefährdung, sie sind lediglich die schlimmsten Folgen. Die Ursachen liegen in uns.

Wir haben wenig Ehrfurcht vor dem Leben. Unsere heutige Wegwerfmentalität trifft nicht nur Konsumartikel, sie macht selbst vor Mensch und Tier nicht halt. Albert Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben” war ganzheitlich gemeint. Alles andere ist eine Selbsttäuschung, die auf mangelnder Selbsterkenntnis beruht.

Mit Atombombenpolitik tötet man ebenso wie mit Abtreibung ein Stück seiner selbst. Mit jeder Abtreibung töten wir ein Ebenbild Gottes. Zu unserer Vernichtung brauchen wir Gott schon nicht mehr, aber wir brauchen ihn zu unserer Rettung. Wenn er uns aber retten soll, müssen wir uns auch retten lassen. Das heißt: Wir müssen Gott in uns wieder entdecken.

Es gibt sicher keinen Frieden, wenn es immer mehr Atomwaffen gibt. Das Angebot des Bergpredigers zur Überwindung der Gewalt ist die Liebe. Es gibt aber auch zuwenig Liebe über den Leichen von Ungeborenen.

Von wirklicher Gewaltfreiheit können wir erst reden, wenn wir sie politisch und persönlich meinen. Mahatma Gandhi, Vorbild der Friedensbewegung, war nicht nur ein Verfechter politischer Gewaltfreiheit, er war auch Abtreibungsgegner.

Der Autor, promovierter Politikwissenschafter, ist Verfasser des vieldiskutierten Buches „Frieden ist möglich - die Politik der Bergpredigt”, Piper-Verlag, München 1983.

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