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Eine unzeitgemäße Betrachtung

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Eine „unzeitgemäße Betrachtung“ nennt der Autor selbst diese Studie: und tatsächlich, wenn das Thema zunächst einmal sehr aktuell erscheint, so zeigt sich bei der Lektüre (die einiges theologisches Verständnis voraussetzt), daß Niederwimmer völlig andere Wege beschreitet, zu völlig andern Schlüssen kommt, als dies in ähnlichen Publikationen derzeit der Fall ist.

Kurt Niederwimmer, Vorstand des Instituts für neutestamentliche Wissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, folgt nicht dem Trend, im Frühchristentum einen möglichst gradlinigen Vorposten unserer heutigen, aufgeschlossenen Sexualethik zu konstruieren. Im Gegenteil, er zeigt die teilweise höchst rigoristischen Einbahnen, in die christliche Ehetheorie gleich in ihren Anfängen geraten ist; er will diese Vergangenheit nicht beschönigen, schon gar nicht verdrängen. Er will sie bewußt machen, um um so eher eine neue Auffassung for mulieren zu können, was erst möglich ist, wenn man die geschichtlichen Umstände der, frühen Christenheit - soweit sie aufgrund neuer Textfunde erforschbar sind - näher analysiert.

Das Skandalon in Niederwimmers Buch: er spricht der asketischen Motivation im Christentum von Anfang an einen größeren Geltungsraum zu, als gemeinhin angenommen wird. Die Entwicklung lief nicht, wie man oft annimmt, von relativer Freiheit hin zum Rigorismus, sondern im Gegenteil: während zunächst die Askese großen Raum einnahm, schloß die werdende Kirche einen Kompromiß mit der Realität und schränkte den Askese-Anspruch ein. Daraus allerdings entwickelte sich dann jene Zwiespältigkeit, die dem frühen Christentum fremd war: denn dort galt Askese für alle Auserwählten,

während in der weiteren Entwicklung die Askese dann nur für bestimmte Gruppen innerhalb der Christenheit verpflichtend wurde.

Diese These fundiert Niederwimmer, indem er zunächst die überlieferten Herrenworte selbst analysiert und in ihren rabbinischen Bezug setzt.

Jesu Verbot der Ehescheidung (Mt 5,32) sowie das vorangehende Logion vom rechten Auge, das man ausreißen sollte, steht in scheinbar direktem Widerspruch zu Jesu Negierung des jüdischen Sexualrigorismus, wie sie in der Erzählung von der Salbung Jesu durch eine Dime (Lk 7,36-50) oder in Jesu Rettung einer Ehebrecherin (Joh. 7,53 ff) in gewünschter Deutlichkeit zum Ausdruck kommt.

Wie das Paradoxon auf einen Nenner bringen? Einmal ist es schon verwerflich, eine Frau nur begehrlich an zuschauen - dann wieder verhindert Jesus eine von der Thora vorgeschriebene Steinigung, die einer rituellen Reinigung gleichkam. Läßt Jesus also die Schuld ungesühnt, die Ehebrecherin straffrei?

Niederwimmers Antwort ist einleuchtend, wurde aber wohl selten so eindeutig, so konkret gegeben: „Die Forderungen Jesu sind nicht dazu da, das Leben der historischen Positivität (etwa der Gesellschaft seiner Zeit) zu normieren, zu gestalten, die Sitte zu verbessern, die gesellschaftliche Gerechtigkeit zu vermehren und dergleichen mehr, sie wollen nicht die Entfremdung vermindern, sondern auf- heben … Im Mythos von der Ankunft der Herrschaft Gottes verschlüsselt sich der eschatologische Sinn der Moralkritik Jesu.“

Auf diese Weise erkennt man in Jesu Unerbittlichkeit in den Forderungen ebenso wie in der Bedenkenlosigkeit seiner Vergebung eine gemeinsame Tendenz: „Die Ausrichtung auf das Unbedingte hin, in dem allein erst menschliche Existenz ihren Sinn finden kann.“

Im weiteren geht es dämm, wie diese eschatologische Unbedingtheit Jesu in der Geschichtlichkeit seiner Nachfolger adaptiert wurde - in enthusiastischer Askese ebenso wie in enthusiastischem Libertinismus. Ausführlich werden die Entwicklungen über Eheverzicht und Christus als himmlichem Bräutigam, über Gnosis und Auseinandersetzung mit dem Heidentum der Antike bis weit ins zweite Jahrhundert hinein verfolgt, und dem Leser wird plausibel, was Niederwimmer abschließend feststellt: es ist als die entscheidende Leistung der sich herausbildenden Großkirche anzusehen, daß sie das ursprüngliche Junktim von Taufe und Sexualverzicht verwarf.

ASKESE UND MYSTERIUM. Über Ehe, Ehescheidung und Eheverzicht in den Anfängen des christlichen Glaubens. Von Kurt Niederwimmer, Van- denhoeck und Ruprecht, Göttingen, 267 Seiten, öS 346,50.

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