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Expressionismus in Österreich

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Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß ein ganzer Abschnitt der österreichischen Literatur unseres Jahrhunderts bisher keinesfalls die ihm gebührende Würdigung erfahren hat. Und zwar jener von 1907 bis etwa 1930, in dem auch Österreichs Dichtung vom Expressionismus geprägt wurde und innerhalb seines Rahmens einen bedeutenden, eigenständigen Beitrag leistete. Gewiß. Es gab bisher über einzelne Persönlichkeiten der Zeit beachtliche Einzeldarstellungen, aber die Überschau, die zusammenfassende und grundlegende Betrachtung ihres Werkes und seiner Eigenarten fehlte.

Dem hilft nun eine fundamentale Arbeit ab, die im Wiener Europaverlag soeben erschienen ist und unter dem Titel „Alle Glocken, der Erde“ die expressionistische Dichtung des Donauraums behandelt. Ihr Autor ist der Schriftsteller und Dichter Dr. Theodor Sapper, der, selbst ein bekannter expressionistischer Lyriker, an der Wiener Akademie der bildenden Künste Literaturgeschichte lehrt. Diese besondere Konstellation erklärt Engagement und Einsichten des Verfassers, dem es gelingt, sowohl die allgemeinen wie die individuellen Strukturen des österreichischen Expressionismus in der Literatur eindringlich zu zeigen und zu erhellen. Sapper beginnt mit einer Analyse seiner Aufgabe und deren Aktualität, um dann die wesentlichen Kennzeichen lyrischer Expression, die er Signaturen nennt, herauszuarbeiten. Er findet sie in der Sprengung des Satzgefüges und seiner raffenden Kürzung. In der Ballung von Begriffen und ihrer Gleichsetzung, und einer weitgehenden Mutation der Syntax, die ein neues Weltgefühl auszudrücken beginnt. Nur wo diese Kennzeichen auftreten, ist von echter expressionistischer Dichtung zu sprechen, meint Sapper, und nennt als ihre spezifisch österreichischen Merkmale sowohl das Fehlen des radikalen politischen Aktivismus, wie das unbedingte Nein gegenüber einer allzu euphorischen Prognostik, als auch die besondere Eigenständigkeit des österreichischen Dialekts als gelegentlich verwendetes, gleichrangig empfundenes Ausdrucksmittel.

Sapper beginnt dann mit der Analyse von Kokoschkas frühen Dramen, in denen er den Modellfall für die expressive Setzung von Satzkür- zungs-Signaturen sieht, den Beginn des österreichischen Expressionismus, um dann die einzelnen bedeutenden Dichter der Zeit in analytischen Essays, vom Wort ausgehend, ebenso kritisch wie liebevoll zu behandeln. Besondere Ehrenrettungen gelten Albert Ehrenstein und Theodor Däubler, dem „weissagenden und kämpferischen Psalmisten“ und dem „Schöpfer einer Lichtwelt“, wie sie Theodor Sapper nennt, der ekstatischen Utopie Georg Kulkas und dem manichäischen Dualismus von Ernst Weiss. Der Autor untersucht ebenso die die Norm sprengende Ausdruckswelt Georg Trakls wie das expressionistische Jugendwerk Franz

Werfels. Einzelne Essays sind dem jung verstorbenen Hans Kältneker, Jakob Haringer, dem „Bänkelsänger “ unter den österreichischen Exr pressionisten, Franz Theodor Csokor und Albert Paris Gütersloh gewidmet.

An den Beispielen von Robert Müller und Robert Musil untersucht Sapper die expressionistische Dichtung und die Gesellschaftsstruktur, an jenen von Johannes Lindner und Richard Billinger die Spielarten rustikaler Ausdruckskunst. Ein Kapitel ist unter dem Titel „Brust der Menschheit“ jener Avantgarde der zwanziger Jahre zugeeignet, die von Theodor Tagger (vulgo Ferdinand Bruckner) bis Elisabeth Janstein reichte. Hier finden wir Raoul Hausmann, Johannes Urzidil, Hermann Broch, Walter Serner und Arnolt Bronnen ebenso wie Franz Kafka. Ein weiteres Kapitel behandelt den Schrumpfungsprozeß des österreichischen Expressionismus zum Teilaspekt eines lyrischen Surrealismus an Hand der Beispiele von H. C. Artmann und Ernst Jandl, wobei Sapper dessen Ursache in der übermächtigen Angst vor einer Weltkatastrophe und dem damit verbundenen Verlust an sprachschöpferischen Impulsen sieht. Als Endergebnis registriert er die Notwendigkeit, vom Sprachgebrauch der Expressionisten, schöpferischer Sprache im Kampf gegen den Jargon, zu lernen, ihre allgemein menschliche Ethik und Aussage anzunehmen als Mahnung an unser Gewissen. Anmerkungen und eine eingehende Bibliographie schließen diesen ebenso wert- wie gehaltvollen Band ab.

ALLE GLOCKEN DER ERDE. Expressionistische Dichtung aus dem Donauraum. Von Theodor Sapper. Europaverlag, Wien. 173 Seiten.

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