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Das Lesebuch als Lebensgeleit

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Der vorliegende Band, der unter Mitarbeit von Dr. Siegfried Deutschmann, Dr. Isolde Emich, Dr. Hans Hajek und Dr. Karl Jelusic für die letzte (achte) Klasse der Mittelschulen vom Bundesministerium für Unterrricht approbiert wurde, hat neben dem Unterrichtszweck des Jahrganges sich zum Ziel gesteckt, nicht „antiquarisch“ verkauft zu werden, sondern ein Schlüssel zu sein, ein freundlicher Wegweiser, der wenig vom erhobenen Finger, viel aber von der kameradschaftlich gebotenen Hand an sich hat. Zunächst wird der Weg von der Romantik zum Realismus eingeschlagen. Auch in der Dichtung (und wenn man das früher auch zuweilen gerne fortließ) kündigten sich die Wandlungen in der Sozialstruktur an, rangen Kräfte miteinander, die späterhin in verwandelter Gestalt und mit neuer Etikette versehen als „neu“ auftraten. Aber, gestehen wir nur ein, was hat sich schon seit den Worten Heines .n seinen „Reisebildern“ geändert: „Es gibt in Europa keine Nationen mehr, sondern nur Parteien ... Vermöge dieser Politik bilden sich jetzt zwei große Massen, die einander gegenüberstehen und mit Reden und Blicken bekämpfen ...“ Oder seit Grillparzers Worten: „Die gegenwärtige literarische Epoche mag als Uebergangsperiode allerdings ihren Wert haben, gleichsam als Dünger einer künftigen Vegetation; wer aber den Dünger selbst schon für Rosen hält, ist doch ein hinlänglicher Narr.“ Ä JWif'fÄben also*in 8er Arsten AtteSung die Jungdeutschen: haben würdig die österreichische Dichtung nicht als Schattenpflanze unter ausländischen Stechpalmen vor uns: Grün, Lenau, Stifter (die Vorrede zu den „Bunten Steinen“ von 1853 ist ein grundlegendes Manifest), finden die Ebner-Eschenbach und unseren Saar, Rosegger, Anzengruber und Kürnberger (den gehoben zu haben, ein Verdienst ist) sowie den größten Mundartdichter, den wir besitzen: Stelzhamer.

Auch in der Abteilung „Vorbilder und Vorkämpfer des Naturalismus“ und im Bereich „Vom Impressionismus zum Expressionismus“ waltete eine sorgliche Hand. Wir begegnen Stefan Zweig neben Ibsen, Tolstoi und Dostojewsky. Richtig erkannt sind Zeitzeugnisse, wie der Aufruf zur „Freien Bühne“, die Otto Brahm 1889 verfaßte. Natürlich fehlen weder Hofmannsthal noch Werfel, Trakl, Bahr, Kraus, Petzold, Wildgans, Rilke oder Schaukai. Der land-schaftsverbundenen Dichtung ist mit Proben aus Werken von Schönherr, Handel-Mazzetti, Oberkofler, Billinger, Suso-Waldeck (sehr verdienstlich!) bei dem Abschnitt „Heimatkunst“ ebenso ein dem österreichischen Wort gebührender Platz eingeräumt wie der Sprache von heute: Musil, Meli, Paula v. Preradovic, Hochwälder. Darüber wird aber eine Universalität nicht vergessen. Neben den Russen stehen die Franzosen: Baudelaire, Verlaine, Rimbaud, Mallarme, }Vr-nanos, Claudel, Giraudoux, die Belgier Maeterlinck und Verhaeren, der Russe Gorki, die Briten Gals-worthy, Huxley, Priestley und Eliot.

Es wäre unbillig, bei der fremdsprachigen Literatur nach Namen zu suchen, die fehlen. Der Sinn eines Geleits ist der Hinweis auf die Nation, auf die instrumentale Stimme im Orchester. Die eigene Neigung, die eigene “Fassungskraft wird nachspüren. Dazu gehören Achtung und Toleranz, Erkennen des Maßes, Selbstprüfung und Selbstkritik, ehe man zur Prüfung durch das Leben antritt, in dem man nie auslernt, und gehört die umfassende Liebe. Felix Braun hat ihr in der mitgeteilten Probe aus der Essay-Sammlung „Das musische Land“ tiefe, be-herzigendie - Gedanken- gewidmete'; und ebenso deutlich wie wahr bemerkt, daß die Geschichte der österreichischen Dichtung die unserer Beziehung zum Nebenmenschen ist.

Nicht die Staatskanzleien und die ordenbehangenen Großen formen jene Beziehung und Hinleitung zur Menschheit; nicht die Ideologien; nicht die wortreichen Reden zum Fenster hinaus für eine wankelmütige Masse. In der Welt schlägt nur ein Herz: das des Dichters. Dies ahnen zu lassen, ist das eigentlichste Anliegen des Lesebuches.

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