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Eint das Christentum die Kultur?

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Die treibende Kraft bei der Schaffung einer gemeinsamen Kultur in zwei kulturell verschiedenen Ländern ist die Religion. Ich bitte Sie, mich nicht falsch zu verstehen und zu denken, Sie wühlen bereits, worauf ich hinaus will: dies ist kein religiöses Referat, keine Predigt, und ich will niemand bekehren. Ich spreche nur eine Tatsache aus. Ich denke nicht so sehr an das Band zwischen den gläubigen Christen unserer Zeit. Ich denke an die uns allen gemeinsame Tradition des Christentums, die das moderne Europa geprägt hat, und an die kulturellen Werfe, die für uns alle aus dieser Tradition erwachsen sind. Wenn ganz Asien morgen zum christlichen Glauben bekehrt würde, so würde es damit noch kein Teil Europas. Es ist das Christentum, auf dessen Grundlage sich unsere Kunst entwickelt hat, es ist das Christentum, in dem — bis vor kurzem wenigstens — die Gesetze Europas verwurzelt waren. Allein vor diesem Hintergrund des Christentums erhält unser ganzes Denken seinen Sinn. Der einzelne Europäer mag den christlichen Glauben für falsch halten, und doch entspringt alles, was er sagt, denkt oder tut, diesem Erbgut der christlichen Kultur und wird nur aus ihm heraus verständlich. Allein die christliche Kultur konnte einen Voltaire hervorbringen oder einen Nietzsche. Ich halte es für ausgeschlossen, dafj die europäische Kultur den völligen Untergang des christlichen Glaubens überleben könnte. Diese Ueberzeugung hege ich nicht nur, weil ich selbst ein Christ bin, sondern weil ich mich mit dem Studium der modernen Gesellschaft befafjt habe. Das Ende des Christentums wäre das Ende unserer ganzen Kultur. Dann mühten wir mühselig von vorne beginnen, denn eine Kultur läfjt sich nicht fertig übernehmen. Dann müßten wir warten, bis das Gras gewachsen ist, das den Schafen Futter gibt, aus deren Wolle das neue Kleid gewebt werden kann. Jahrhunderte der Barbarei würden vergehen müssen. W i r würden die neue Kultur nicht mehr erleben, und auch nicht unsere Kinder und Kindeskinder; und wenn wir sie selbst erlebten, so würde nicht ein einziger unter uns daran Freude haben.

Wir verdanken der Erbschaft des Christentums anderes noch als den christlichen Glauben. In seinem Wandel durch die Zeiten erleben wir die allmähliche Entwicklung unserer Künste; ihm verdanken wir die Begriffe des römischen Rechts, die zur Formung unserer westlichen Welt so stark beigetragen haben; ihm verdanken wir unsere Begriffe individueller und öffentlicher Moral. Das Christentum übermittelte uns schließlich die Literaturen Griechenlands und Roms, die heute unseren gemeinsamen literarischen Maßstab bilden. Auf dieser Erbschaff beruht die Einheit der westlichen Welt: auf dem Christentum und den antiken Zivilisationen Griechenlands, Roms und Israels, von denen wir durch zwei Jahrtausende der christlichen Aera unsere Herkunft ableiten. Ich will diesen Punkt hier nicht weiter ausführen. Betonen aber möchte ich: Die jahrhundertelange Gemeinsamkeif kultureller Werte isf das wahre Band zwischen uns allen. Was uns diese kulturelle Einheit gibt, das kann keine politische oder wirtschaftliche Organisafion ersetzen, sei sie noch so machtvoll. Wenn wir unser gemeinsames Erbe verschleudern, dann hilft uns keine Organisafion, dann vermögen-auch die Pläne der klügsten Köpfe nicht, uns einander näherzubringen.

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