Corona-Krise: Das Leben als Triage

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Wem sollen wir zuerst helfen? Vor diese Entscheidung werden weltweit Ärzte gestellt. Doch auch Politik, Gesellschaft und Kirche müssen derzeit wählen. Gedanken über Priorität.

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Wem sollen wir zuerst helfen? Vor diese Entscheidung werden weltweit Ärzte gestellt. Doch auch Politik, Gesellschaft und Kirche müssen derzeit wählen. Gedanken über Priorität.

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Es ist eines jener ikonographischen Bilder, die bleiben werden: Papst Franziskus am Abend des 27. März 2020 auf dem nassblau schimmernden Petersplatz. Allein, verlassen, hinkend. Die Szenerie hat große Emotionen provoziert: Beklemmung bei den einen, die das Gesehene auch als symptomatisch für den Zustand der katholischen Kirche insgesamt empfinden – Überwältigung und Stärkung bei den anderen, die Trost und Hoffnung suchen. Der gegenwärtige „Sturm“ decke „jene falschen Gewissheiten auf, auf die wir bei unseren Plänen, Projekten, Gewohnheiten und Prioritäten gebaut haben“, sagte der Pontifex. Nun sei die Zeit der Entscheidung.

Jene 24-Stunden-Betreuerinnen, denen man vor Kurzem noch die Familienbeihilfe kürzte, lässt man nun einfliegen. Man müsste ihnen den roten Teppich ausrollen.

Wie existenziell schwierig Entscheidungen sein können, zeigt sich derzeit nirgendwo drastischer als auf den Intensivstationen dieser Welt. Angesichts heilloser Überlastung sind Ärztinnen und Ärzte gezwungen, bei der Behandlung von Patienten Prioritäten zu setzen. Hier von „Euthanasie“ zu sprechen, ist zwar irreführend, wie Medizinethiker betonen. Zudem gehe es beim Konzept der „Triage“ (vom frz. trier, sortieren, aussuchen) gerade nicht um Willkürentscheidungen, sondern um Rationierungen, für die es ethische Leitlinien brauche (und nein, Alter allein oder gar der soziale Status dürfe kein Kriterium sein). Aber ob diese Leitlinien derzeit eingehalten werden, ist fraglich. Umso mehr rütteln Berichte aus Italien oder Frankreich auf: Sie machen klar, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist. In „normalen“ Zeiten bequem definierte Werte werden plötzlich zur Kenntlichkeit entstellt.

Folgen des „Lockdowns“

Was bedeutet all das für die Politik? Österreichs Regierung hat sich angesichts des drohenden Zusammenbruchs des Gesundheitssystems (was nicht nur für alte, sondern für alle Menschen verheerend wäre) für den „Lockdown“ entschieden und die stete Verschärfung der Maßnahmen weitgehend plausibel und klar kommuniziert. Dennoch zeigen die dramatischen Folgen dieser grundsätzlich richtigen Entscheidung (die in freien Demokratien – anders als in Ungarn – immer hinterfragbar bleiben muss), wie viel zuletzt falsch priorisiert wurde.

  • Beispiel Flüchtlingskrise: Angesichts erster Covid-19-Fälle in griechischen Lagern und einer immer wahrscheinlicheren Katastrophe wird das Versagen Europas unerträglich deutlich. Dass sich die österreichische Regierung bis dato einer Mithilfe an der Beendigung dieses menschenunwürdigen Zustands verweigert, ist eine Schande.
  • Überdeutlich wird nun auch die Abhängigkeit Österreichs von ausländischen Arbeitskräften im Pflegebereich. Jene 24-Stunden-Betreuerinnen, denen man vor Kurzem noch die Familienbeihilfe kürzte, lässt man nun aus Bulgarien oder Rumänien einfliegen. Man müsste ihnen nach der Ankunft den roten Teppich ausrollen.
  • Auch wirtschaftliche Fehlentwicklungen zeigen in der Krise ihre Absurdität: Unternehmen, die vom Staat durch „Kurzarbeit“ finanziell am Leben gehalten werden und zugleich Boni ausschütten, sind ein Hohn – nicht nur für jene Kleinunternehmer, die gerade beim Ansuchen um Härtefallfonds-Gelder mit der Bürokratie ringen.
  • Nicht zuletzt in der Bildungspolitik zeigt sich jetzt, worum es eigentlich ginge: Nicht um „Stoff“ oder Textsorten, sondern um die Begleitung möglichst eigenständig denkender und handelnder, sozial kompetenter sowie resilienter junger Menschen.

Ja, es ist die „Zeit der Entscheidung“, wie der Papst meint. Nun gehe es um „neue Formen der Gastfreundschaft, Brüderlichkeit und Solidarität“. Das muss natürlich auch für die katholische Kirche selbst gelten, die sich zuletzt für viele zu sehr um liturgische Regeln und zu wenig um neue Formen der Krisen-Seelsorge gekümmert hat. Aber der Ausnahmezustand hat erst begonnen. Und die Hoffnung auf neue Prioritäten lebt.

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