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Literarische Profile

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Seinem hohen Anspruch, das Profil und die Entwicklung der österreichischen Literatur von 1880 bis 1980 aufzuzeigen, wird dieses zweibändige Werk, Ergebnis der Forschungen von europäischen und amerikanischen Germanisten, in hohem Maße gerecht. Einer großen Gefahr ist hier gesteuert, denn je näher solche Werke an die Gegen­wart heranführen, desto mehr glei­chen sie einer Inventur von mehr oder minder geläufigen Namen, welche dann notdürftig rubriziert werden.

Ganz anders verfährt dieses Buch dank seines von Herbert Zeman vorgegebenen Konzepts. In dem ein­führenden Essay von Zeman wird das Spezifische der österreichischen Literatur in ihrer Dreidimensiona-lität verdeutlicht. Im Vielvölker­staat mit seinen nationalen Über­schneidungen im aggressiven und zugleich kombinierenden Sinn des Wortes kommt der Musik als über­begriffliche Sprache allgemeiner Verständlichkeit größere Bedeu­tung zu als anderswo. Für die dritte Dimension ist aber noch immer der Nachklang des Barock ausschlag­gebend. Denn die Scheinhaf tigkeit des Wirklichen schließt im Barock weder deren sinnliche Erschei­nungskraft noch deren symbolische Bedeutung aus. Also gehen in der österreichischen Geistesgeschichte philosophische oder spirituelle Vorbehalte mit rauschhafter oder naiver Hingabe Hand in Hand. In der Weitwinkeloptik von Zemans Betrachtungsweise gehört dann Ludwig Boltzmann ebenso wie Franz Lehär, der „Alte Sünder" ebenso wie „Der Evangelimann" ins Bild. Durch solche Verzweigung der Strömungen bis ins Operetten­libretto oder in den Unterhaltungs-film ergibt sich das Profil, eine Art Satellitenbild der geistesgeschicht­lichen Tektonik unseres Landes.

Wie sich diese leitenden literari­schen Strömungen in den letzten 50 Jahren ausgewirkt haben, zeigt Waltraut Schwarz in einem Längs­schnitt. An diese beiden grundle­genden Essays schließen sich Ein­zeluntersuchungen an, so daß so gut wie alle Positionen der öster­reichischen Literatur im gegebe­nen Zeitraum berücksichtigt wer­den: Bildung, Schulbetrieb, Ver­lagspraxis und Zeitungswesen ebenso wie die Rezeption österrei­chischer Literatur in West- und Ost­europa. Die großen Gipfel (Kafka, Musil, Broch) werden dadurch, daß ihre gattungsgeschichtliche Funk­tion untersucht wird, in ein ganz­heitliches Panorama einbezogen: So untersucht Walter Dimter Robert Musils Briefe als autobiographische Prosa des „ernstesten Dichters" Österreichs. Hartmut Steineckes Beitrag: „Totalitätskunstwerk oder totaler Roman", spannt den Bogen der Romanpoetik von Musil bis Doderer.

Auch eher abseits stehenden So-litären wie etwa Otto Stoessl - „ein vergessener großer Humorist" -widerfährt Gerechtigkeit in mono­graphischen Beiträgen (Joseph P. Strelka). Der Frauenliteratur der Jahrhundertwende nimmt sich Christa Fritsch an.

Der Ausdruck „Profil", den Her­bert Zeman an die Spitze des Wer­kes setzt, läßt zwei Assoziations­richtungen offen, einerseits zum Morphologisch-Statischen, ande­rerseits zum Physiognomischen. Die Metapher „Profil" ist doppeldeutig und gilt für das Leblose ebenso wie für ein lebendiges Antlitz. In allem Lebendigen, zu dem auch die Lite­ratur gehört, gibt es aber zwei Zo­nen, die phänotypische, die Domi­nanz dessen, was derzeit in der zeit­genössischen Problemkulisse im Vordergrund steht und die Haupt­rolle spielt, und die genotypische, das sind die Veranlagungen und Möglichkeiten, die in der geschicht­lichen Erbmasse gespeichert sind, derzeit aber als „Traum der Reser­ve" im Schatten der Problemkulis­se fast unbemerkt hindämmern.

Zemans Eröffnungsessay ist da­durch charakterisiert, daß er zu ei­nem umfassenden Bild von den inneren Möglichkeiten der öster­reichischen Literatur hinführt. In den Beiträgen der Mitarbeiter sind die Gewichtungen manchmal ein­seitig gesetzt. Während die Grup­pendynamik der Sprachexperimen­tatoren, der Wiener Dialektdichter und Textmonteure sehr ausführlich dargestellt ist, wird einem Autor wie Hans Lebert, dessen Epik die österreichische Vergangenheit auf­arbeitet und die vielfach übersetzt

wurde, keine einzige Zeile zugebil­ligt. Beachtenswerte Prosaisten wie Inge Merkel und Matthias Mander werden nicht erwähnt.

Hier zeigt sich, daß in der kleinen Welt der Literaturgeschichte nicht anders verfahren wird als in der großen der Politik. Einem Fehler -der ungenügenden Beachtung der Avantgarde um 1950 bis 1960-folgt die reuige Überkompensation: durch eine Vorherrschaft, ja Me-dientyrannis der ehemals Vernach­lässigten. Soll also das Pendel von einem Extrem ins andere, von ei­nem Unrecht ins andere die einzige Antriebsenergie des Fortschritts liefern? Es mutet parodistisch an, wenn einer der ältesten und in sei­ner Sprachkultur nobelsten Minia­turisten Österreichs, Erik G. Wik­kenburg, nur zufällig in das Buch hineinrutscht, und zwar in die Rub­rik „Karikaturisten", durch einen Beitrag von Josef ine Nast über die Wiener Buchillustration.

Und so bleibt denn - trotz her­vorragender Arbeiten so vieler be­deutender Germanisten - unter de­nen Klaus Weißenberger mit seiner Arbeit über Lyrik hervorgehoben sei - mancher Weg der Literaturge­schichtsschreibung unerforschlich. Den Kommenden wird es nicht an Überraschungen fehlen.

DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegen­wart (1880-1980). Eine Dokumentation ihrer li­terarhistorischen Entwicklung. Herausgegeben von Herbert Zeman. Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz 1989.1.560Seiten,öS1.760.-

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