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Reifeprüfung

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Das Volk ist reif für die Demokratie. Die Menschen sind mündig. Das verkünden immer wieder Politiker und Zeitungen.

Der letzte Sicherheitsbericht gibt bekannt: Im Jahre 1977 wurden in Österreich 322 Verbrechen gegen Leib und Leben begangen, dazu kamen 1549 Verbrechen gegen die Sittlichkeit (= 39 Prozent aller Sittlichkeitsdelikte) und 56.236 Vermögensdelikte. Insgesamt wurden 1977 den Sicherheitsbehörden 303.567 gerichtlich strafbare Handlungen bekannt, davon 41.250 Straßenverkehrsdelikte. Das ist viel oder wenig - wie man's nimmt. Aber sei's drum.

Herr, ich danke Dir, daß ich nicht bin wie jene. Die Gesellschaft ist doch intakt. - Oder?

Schließlich geben nicht nur Verbrechenszahlen Aufschluß über die (Struktur würde heute jedermann sagen) innere Beschaffenheit einer Gesellschaft. Also analysieren wir weiter: Rund 13 Millionen Schilling Schaden entstand 1978 in Wien durch Vanda-len in Parkanlagen und öffentlichen Verkehrsmitteln. Durch Schwarzfahrer entstehen den Wiener Verkehrsbetrieben jährlich Millionenschäden; 1978 waren es 150 Millionen. Die Zahl der TV-Schwarzseher wird mit 445.000 heziffert, was einen Gebührenausfall von mehr als einer halben Milliarde Schilling bedeutet. Aber bitte, das sind Kavaliersdelikte.

Genauso wie Steuerdelikte (zu denen in jüngster Zeit immer mehr Wirtschaftsdelikte kommen). Gleichfalls Kavaliersdelikte. Wir müssen enorm viele Kavaliere haben! Die Sache sieht nur etwas anders aus, wenn man bedenkt, daß Steuern die für die moderne Industriegesellschaft zeitgemäße Form der Gemeinschaftsleistung sind.

Dazu kommen die Kavaliersdelikte in Form der Verkehrsdelikte. Wir sind eben ein Volk von Kavalieren. Die Autoraser sind wieder unterwegs. Die Zahl der Verkehrstoten - 1973 durch das Tempolimit erheblich verringert - hat wieder traurige Rekorde erreicht. Und weil Spikefahrer das Tempolimit mißachten, entstanden auch dadurch Millionenschäden. Die jährlichen Schäden durch Abrieb belaufen sich auf 300 bis 400 Millionen Schilling.

Wenn man also weiß, daß rund 80 Prozent- aller Verkehrsunfälle auf menschliches Versagen und Fehlverhalten, ja auf Rücksichtslosigkeit, Trunkenheit und sogar Brutalität zurückzuführen sind, wird der Homo sapiens recht fragwürdig. Noch dazu, wenn man bedenkt, daß 1973 das Tempolimit wegen des „Schocks“ der Benzinknappheit und der damit verbundenen „Gefahr“, gelegentlieh auf sein Auto verzichten zu müssen, folgsam hingenommen wurde, während es heute weitgehend mißachtet wird, weil Tausende Verkehrsopfer keinen Schock auslösen.

Überhaupt bieten ja Unglück und Katastrophen, die andere betreffen, eine Show. Wenn in einer Klamm ein Steg einbricht und Kinder in die Tiefe gerissen werden, müssen Barrikaden errichtet werden, weil die Schau-„lusti-gen“ den Bergungsmannschaften den Weg verstellen. Wenn ein Flugzeug abstürzt, ein Wagen in den Fluten versinkt oder ein Haus abbrennt, können die Einsatzfahrzeuge nicht durch, wird rasche Hilfe verhindert, weil die gefährliche Neugier Sensationslüsterner die Zufahrtswege verstopft.

Gewünscht werden grenzenlose Freiheit, mehr Gleichheit - für sich selbst, versteht sich -, abhanden kommt die Brüderlichkeit. Patriotismus wird zweimal jährlich abreagiert: Im Sommer bei Fußballnationalspielen, im Winter bei internationalen Skiwettkämpfen. (Bitte keine Mißverständnisse: Ich bin ein Leben lang aktiver Sportler.)

Einigkeit besteht dann nur noch in der Kritik und im Nörgeln am Gemeinwesen, am Parlament, an der Regierung - wie immer sie zusammengesetzt seien. Aber, Pardon und mit Verlaub: Hat nicht jedes Volk die Regierung, die es verdient, und ist nicht das Abgeordnetenhaus ein Spiegelbild der Bevölkerung? Vielleicht wäre das alles besser, die Gesellschaft mitsamt der Regierung, wenn wir uns alle einmal so verhielten, wie wir es vom Mitbürger und von der Regierung erwarten?!

Der Staat sind bekanntlich wir alle. Und die Familie ist die Keimzelle des Staates. Und da werden pro Jahr bis zu 100.000 Kinder von ihren Eltern - „Eltern“ - schwer geprügelt. Die Zahl der Abtreibungen wird mit 60.000 bis 100.000 pro Jahr beziffert. Hier handelt es sich nicht mehr um Kavaliersdelikte. Denn den Charakter des Delikts haben sie offiziell eingebüßt. Und die feinen Kavaliere gingen oftmals auch verloren. - Wäre nicht vielleicht alles besser, wenn erst einmal die Zahl der Kavaliere so groß wäre wie die Zahl der Kavaliersdelikte?

Mündige Bürger? Reif für die Demokratie? Manchmal, scheint's, nicht einmal noch reif fürs Leben.

Hier erschließt sich ein breites Betätigungsfeld für gesell-schaftsverändernde, gesellsc haftsverbessernde Maßnahmen.

Als politische Kolumne soll dieser Beitrag durch Provokation zum Denken anregen. Die einzelnen Formulierungen des Autors müssen sich nicht mit den Auffassungen der Redaktion decken.

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