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Sind die Deutschen russophil geworden?
Noch vor zehn Jahren konnte man den Eindruck haben, daß die neutralen Österreicher die kleinen Lieblinge der Sowjetunion im Westen sind. So wie die Deutschen jahrzehntelang die Lieblings-Bösewichte Moskaus waren.
Diese Woche beim Welt-Wirtschaftsgipfel kämpft niemand so engagiert und vehement für eine westliche Unterstützung von Gorbatschows Reformprogramm als Bundeskanzler Kohl und Finanzminister Waigel.
Selbst die Prawda lobt uns, die doch sehr lange kein gutes Haar in der deutschen Suppe finden konnte.
Dafür hat man bei uns den Eindruck, daß unsere österrei- chischen und erst recht andere europäische Nachbarn diesem deutschen Engagement für westliche Wirtschaftshilfe an die Sowjetunion eher mißtrauisch gegenüberstehen.
Was ist da los? Wieder die alte Eifersucht, wenn die ungeliebten Deutschen irgendwo anders eine neue Liebe entdecken?
Nun handelt es sich aber bei der neuen Kooperation Bonn-Moskau keineswegs um eine schwärmerische Russophilie, obwohl irgendwo in der deutschen und russisschen Seele schon auch eine irrationale Saite mitschwingt.
Schuldgefühle sind selbstverständlich mit dabei, denn was immer uns die Sowjets als Revanche angetan haben, der Überfall auf die Sowjetunion vor 50 Jahren mit einem massenmörderischen Krieg, war eine deutsche Entscheidung.
Auf der emotionalen deutschrussischen Schiene rollt natürlich auch ein gutes Stück Dankbarkeit dafür mit, daß die deutsche Wiedervereinigung doch noch unerwartet in diesem Jahrhundert möglich wurde. Und ohne die Persönlichkeit Gorbatschows wäre dies zweifellos noch längst nicht geschehen.
Aber die derzeit besonders guten Beziehungen zwischen der deutschen und der sowjetischen Politik beruhen doch weit mehr auf praktischer Vernunft. Und das sind auf lange Sicht noch nie die schlechtesten Ehen gewesen.
Ein schneller und unfriedlicher Zerfall der Sowjetunion in unabhängige, aber kaum überlebensfähige Nationalstaaten kann doch wirklich nicht in unserem Interesse sein. Das wäre mindestens Jugoslawien mal
20 und potenziert mit den Atomwaffen der Roten Armee.
Der Auflösungsprozeß wird nicht zu stoppen sein, aber wir würden ihn halt gerne langsam, friedlich und mit ökonomischer Vernunft geplant, ablaufen sehen und nicht mit nationalistischem Unabhängigkeits-Jubel und gleichzeitig nach deutscher Hilfe ausgestreckten Händen.
Das intensive Bemühen von Kohl, Genscher und Waigel um eine gemeinschaftliche Wirtschaftshilfe der westlichen Industriestaaten für die Reformpolitik in der Sowjetunion beruht also letztlich auf einer auch für uns notwendigen und heilsamen Erkenntnis: Nicht nur am deutschen Wesen, sondern auch an der deutschen Mark kann die Welt nicht genesen.
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