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Von Schusters Rappen zum Jet

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Ein neuer Trend macht sich in der Reiseliteratur bemerkbar. Es gibt neben den Baedekers verschiedenster Art, die Kunst, Bauten, Geschichte, Kultur und natürlich auch Gastronomie aller möglichen Reiseziele beschreiben, ein verstärktes Angebot an Literatur über das Reisen an sich (siehe auch FURCHE 2/1992, Seite 8). Allzulange hat die Reisebranche ganz pragmatisch und bar jeder Theorie aus der hohlen Hand gewirtschaftet. Erst als das Geschäft schwieriger wurde, begann man darüber nachzudenken, was denn die Menschen zum Reisen bewegt, was Reisen überhaupt bedeutet und wie ambivalent dieses Unterwegssein ist. Der Sammelband „Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus" ist ein wichtiger Zwischenbericht dieses Nachdenkprozesses.

Freilich, der Titel ist etwas irreführend, denn er stellt eine kritische Darstellung des modernen Tourismus in Aussicht und kann dieses implizite Versprechen nicht einlösen. Doch beim Lesen des Titels weiß man noch nicht, daß es sich hauptsächlich um ein Buch von Geschichtswissenschaftlern handelt. Egon Friedeil, der in seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit" das Reisen nicht weiter beachtet hat, hätte gewiß große Freude mit dem Buch gehabt.

Die Herausgeber waren sich im klaren darüber, daß ihrem umfassenden und maßlosen Unterfangen nur mit lose angeordneten Fragmenten und Einzelbildern entsprochen werden kann. Es stimmt: da fehlt so manches; und die Sichtweise des Historikers bedürfte der Ergänzung durch Psychologen, Theologen, Ökologen, Ökonomen und Soziologen. Das Phänomen Reisen wird zwar ausführlich beschrieben und historisch belegt, aber es erfährt keine existen-zielle oder spirituelle Deutung. Die persönliche Erfahrung wird gemieden, der Gegenwartsbezug nur scheu angedeutet. Dennoch ist dieser Mut zur Lücke lobenswert und für die Neugier des Lesers anregend.

In derbisweilen wissenschaftlichen Sprache, die aber durchwegs verständlich und gut lesbar ist, wird von den Wallfahrten und Vagantenreisen des Mittelalters erzählt, ist von einer durchaus amüsanten „Chronique scan-daleuse des Wirtshauslebens" und von deutschen Entdeckungsreisen der frühen Neuzeit die Rede, wird über die verschiedensten Formen des Reisens räsoniert: über „einige Aspekte der Luftschifferei" genauso wie über „Die Schnellpost" und „Bildungsreisen unter Dampf. Ein Panoptikum von insgesamt 46 interessanten und manchmal geradezu spannenden Aufsätzen.

Wer das alles lesen soll? Alle, die gerne reisen und wissen wollen, wer ihre Vorfahren als Reisende waren. Alle, denen die Entwicklung der Reisekultur ein Anliegen ist. Und natürlich Historiker.

REISEKULTUR. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus. Herausgegeben von Hermann Bausinger. Klaus Beyrer und Gottfried Korff. Verlag C. H. Beck. München 1991.413 Seiten. 103 SW-Abbildungen. öS 530.-.

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