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Digital In Arbeit

Wider die Ignoranz

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Trotz des appellativen Charakters ist das Zukunftsmanifest des Ungarischen Kommunistischen Jugendbundes mehr als Propaganda. Zukunft heißt jetzt: Indifferenz überwinden.

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Trotz des appellativen Charakters ist das Zukunftsmanifest des Ungarischen Kommunistischen Jugendbundes mehr als Propaganda. Zukunft heißt jetzt: Indifferenz überwinden.

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„Auf unseren Einsatz kommt es in Zukunft an!” Das ist der Titel eines Manifestes, in dem neulich der Kommunistische Jugendbund Ungarns zur Verwirklichung der jüngsten ZK-Beschlüsse der Partei aufgerufen hat.

Der oft beschwörende Grundton der Dokumentation verdeutlicht, daß es in Wirklichkeit um viel mehr geht - nämlich um den Versuch, jenen Tiefpunkt zu überwinden, der sich unter der Mehrheit der ungarischen Jugendlichen seit Jahren in einem zunehmenden Vulgärmaterialismus und in einer Indifferenz gegenüber Wertfragen äußert.

Der größte Teil der ungarischen Jugend startet immer noch vom Punkt der Chancenlosigkeit ins Leben — vor allem, was den Erwerb und das Bezahlen einer Wohnung betrifft, was ohne finanzielle Unterstützung der Eltern nicht einmal anvisiert werden kann.

Diese Not trifft gleichermaßen die verschiedenen Gesellschaftsschichten. Aus dieser Einsicht heraus wählen Jugendliche oft Berufe, die mit ihren Begabungen zwar nicht in Einklang stehen, verdienstmäßig aber vielversprechend erscheinen. Der wichtigste Aspekt dabei ist das Erlernen eines Berufes, in dem man sich mit der Zeit „privat”, das heißt selbständig machen kann. Intellektuelle Tätigkeiten, die einen Hochschulabschluß voraussetzen, gehören selten zu dieser Kategorie.

Die Anzahl jener, die ihr Diplom an den Nagel hängen, um sich im Privatsektor beispielsweise als Taxifahrer zu verdingen, nimmt in den letzten Jahren ständig zu. Hinzu kommt auch noch, daß der Zugang zur Universität durch einen Numerus clausus geregelt wird.

Die auf die Förderung des Gesamtwohls abzielende Wirtschaftsreform (FURCHE 50/1986) hat Ansätze für neue Produktionsstrukturen, aber auch Zwänge geschaffen, die weiterhin zum Fortbestand mancher, durch den unfähigen Zentralismus entstandener Probleme beitragen. Menschenwürdige Lebensverhältnisse zu schaffen, setzt wohl überall auf der Welt harte Arbeitsprozesse voraus. Die Erkenntnis jedoch, daß diese dank der herrschenden Umstände ins Unendliche hinein verlängert werden, wenn sich zur Arbeit nicht die optimale Nutzung der „Möglichkeiten” gesellt, führt entweder zu Resignation oder zu einer Aktivität, deren Ziel das immer hemmungslosere Anhäufen materieller Güter und die damit notwendigerweise verbundene menschliche und geistigkulturelle Indifferenz ist.

Diese Indifferenz artikuliert sich nicht nur gegenüber dem für die Partei als Ideal geltenden—jedoch nicht mehr mit Parolen und weltanschaulicher Aufdringlichkeit forcierten — sozialistischen Gemeinschaftsmenschen, sondern auch gegenüber dem Phänomen des christlichen Menschen im Sozialismus.

Den Kirchen fehlen die Massen jener Jugendlichen, die auch für andere eine Verantwortung zu übernehmen bereit sind, genauso, wie der Partei. Doch gibt es positive Zeichen auf beiden Seiten:Zahlreiche junge Menschen sind bestrebt, nach allgemeingültigen Normen und Werten zu suchen und zu leben.

Eine große Mehrheit findet jedoch ihre Unterhaltung in Video-Discos. Die Anzahl derer, die jedwedes Konsumangebot in ohnmächtiger Kritiklosigkeit anbeten, wächst, weil sich immer mehr Jugendliche auf den Weg machen, um den westlichen Teil Europas kennenzulernen.

Ungarn hat in dieser Hinsicht die großzügigsten Paßgesetze unter den sozialistischen Ländern. Zugleich scheint die Sozialpolitik vor den Desintegrationsproblemen jener jungen Aussteiger zu kapitulieren deren Zahl zwar in den letzten Jahren so gut wie konstant geblieben ist, die aber immer wieder Nachschub auch aus geordneten Familienverhältnissen oder aber aus Ausbildungsheimen erhält. Die Jugendkriminalität scheint der Staat im Griff zu haben, der Alkoholismus ist viel mehr für ältere Jahrgänge symptomatisch.

„Wir sind für unser Schicksal verantwortlich!”, verkündet das Manifest des 926.000 Mitglieder zählenden Jugendbundes, dessen Verantwortliche sich der Ursachen und Schwere gewisser Mängel bewußt zu sein scheinen, zumal sie die Jugend aufrufen, Vorschläge zur Lösung ihrer Probleme zu sammeln und Foren zu schaffen, auf denen diese diskutiert werden können.

Die längst fällige Reform der vor 30 Jahren gegründeten Jugendorganisation, die mit diesen Foren eingeleitet wird, vermag freilich weder die brennenden sozialen Probleme noch die zwischen den Menschen entstandene Entfernung auf Anhieb zu verringern. Doch der Austausch von Gedanken und Anregungen kann bereits als ein wichtiger Schritt in diese Richtung gelten.

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