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Wir sind überall Beteiligte

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Wer in diesen Tagen mit offenen Augen durch unsere Straßen geht, mag mit Recht den Eindruck gewinnen, als ob da Millionen Menschen nur einem Höhepunkt kon- sumhafter Sinnenfreude zustreben. Die Klischees der Engel, Weihnachtsmänner, der Neonkerzen und des Plastikflitters überdecken jedes wahre aufkommende Gefühl und suggerieren eine schon sattsam bekannte „Stimmung“, die den religiösen Sinngehalt des Weihnachtsfestes zum Aufputz einer Geschenkorgie mißbraucht.

Die Kritik an der Entartung des Weihnachtsfestes ist nicht neu und findet Verbündete auch dort, WQ die Konsumhysterie nicht zum Alpha und Omega des Jahresablaufes wurde. Aber es sollte doch nicht übersehen werden, daß die Botschaft des Weihnachtsfestes eine so starke und ungebrochene Kraft selbst für das Neuheidentum unserer Tage darstellt, daß sich ihr die Menschen im letzten nicht entziehen können. Man beobachte nur die Hilflosigkeit, mit der im kommunistischen Osteuropa Ersatzfestivitäten erfunden werden und das Neujahrsfest die Geburt Christi vergessen lassen soll. Wer je in einem Ostblockstaat Weihnachten mit- feiern konnte, weiß um die ungebrochene Kraft des Geburtsfestes Gottes gerade für jene Menschen, für die der Kirchenbesuch nach Wie vor ein Maß von Engagement bedeutet, das wir im satten Westen längst vergessen haben.

Das Weihnachtsfest 1974 hat zudem den Vorzug, in einer Zeit stattzufinden, die von einer Bewußtseinsänderung neuer Dimension geprägt wird: angesichts einer via TV ins Wohnzimmer gespielten Unmittelbarkeit der Welt erkennen wir jene grotesken und grausamen Diskrepanzen, die auch Jesus Christus vor bald 2000 Jahren vorfand, als er in die kalte Krippe einer von Skia-

verei, Tyrannei und Armut geprägten antiken Welt gelegt wurde. Der Prozeß der heutigen Bewußtseinserweiterung wird unmittelbar, wenn wir davon hören, daß in den nächsten zehn Jahren möglicherweise einige hundert Millionen Menschen am Rande des Hungertodes leben werden und ihnen heute schon dieser Tod statistisch vorherbestimmt wird. Wir nehmen aber auch bewußter als früher zur Kenntnis, daß die ganze Welt ein Kriegsschauplatz ist — selbst dann, wenn wackelige Verträge friedliche Zustände vorgaukeln wollen. Minderheiten kämpfen um ihr Überleben, religiöse und rassische Gruppen werden in vielen Ländern liquidiert, die Dritte Welt ist von sozialen Konflikten riesigen Ausmaßes erschüttert, der Terror verschont weder Kinder noch Frauen noch Unbeteiligte; sogenannte Freiheitskämpfer werfen auf friedlichen Flugplätzen Bomben und werden dafür noch gefeiert; selbst die Weltorganisation kann und will nicht klar die ewig gültigen Normen des göttlichen, des Menschen- und Naturrechts anerkennen und maßt sich an, durch Mehrheitsbeschlüsse Recht und Unrecht bestimmen zu wollen.

Die Distanz zu allen Ereignissen in der Welt ist geschrumpft, wir sind Beteiligte, auch wenn wir uns gerne absentieren möchten. So wächst die Nachdenklichkeit. N achdenklichkeit auch über jene Selbstverständlichkeiten, die uns ja nur als Ausfluß einer Gnade zuteil geworden sind: nach zwei schrecklichen Kriegen in einer historischen Phase leben zu dürfen, in der einige Länder Europas noch nie so reich und deren Menschen noch nie so frei gewesen sind. Wohlstand und Freiheit haben ein Ausmaß erreicht, das in der Geschichte der Menschheit ohne Beispiel ist — und vergrößern die Distanz zu jenen im Dunkel dieser geschichtlichen Epoche: im Dunkel des Hungers, der Armut und der Krankheit.

Nachdenklichkeit rund um dieses Weihnachtsfest 1974 läßt uns hoffen auf mehr Verpflichtung, der sich die Menschen in Österreich und Europa jetzt bewußt werden. Dieses Gefühl einer weltweiten Verantwortlichkeit, dem sich die Kirche seit ihrem Bestehen als wichtigstem Gebot des Herrn verpflichtet fühlt, macht die Rolle des Christen zu einer Herausforderung.

Wir alle müssen endlich ehrlich sein; das Verschließen der Augen und Ohren entläßt uns weder aus unserer Verantwortung noch löst unser Verhalten irgendein Problem. Wir müssen aufhören, leichtfertig zu sein; leichtfertig im Umgang mit Macht und Geld — nicht nur mit Rohstoffen.

Am Horizont einer wirtschaftlichen Rezession und steigender Arbeitslosenraten in Europa könnte nämlich durchaus wieder die Stimmung wachsen, derzufolge das Hemd näher liegt als der Rock: aber wer sieht nicht den Zusammenhang aller Probleme in einem weltweiten Verbund, wer erkennt nicht, daß eine Krise, die irgendwo ausbricht, auch das fragile Gleichgewicht unserer Volkswirtschaften ins Wackeln bringen kann?

Möge dieses Weihnachtsfest neben der Einkehr auch die Umkehr bringen — daß wir nicht gleichgültig der Menschwerdung Gottes im Krippenbild Zusehen, sondern die unmittelbare Verantwortlichkeit in uns spüren: daß jeder Nächste unser aller Hilfe bedarf, weil wir in ihm Gott schauen.

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