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Wird Pétain rehabilitiert?

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Auf die Atlantikinsel Noirmoutier fährt man wegen ihres Klimas, die Ile d’Yeu hingegen besucht, wer eines Mannes gedenken will, der wie höchstens noch ein anderer in der neueren französischen Geschichte Bewunderung und Haß auf sich zog. Marschall von Frankreich, Sieger von Verdun, Chef des Staates von 1940 bis 1944 — Philippe Pétain liegt dort begraben. Seinen Wunsch, bei den toten Kameraden in Verdun zu ruhen, hat keine Regierung erfüllt. Den einen ist er ein Verräter, der Frankreich Hitler ausliefern wollte, den anderen der Mann, der gegenüber ständigen deutschen Forderungen die Substanz der Nation rettete.

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Auf die Atlantikinsel Noirmoutier fährt man wegen ihres Klimas, die Ile d’Yeu hingegen besucht, wer eines Mannes gedenken will, der wie höchstens noch ein anderer in der neueren französischen Geschichte Bewunderung und Haß auf sich zog. Marschall von Frankreich, Sieger von Verdun, Chef des Staates von 1940 bis 1944 — Philippe Pétain liegt dort begraben. Seinen Wunsch, bei den toten Kameraden in Verdun zu ruhen, hat keine Regierung erfüllt. Den einen ist er ein Verräter, der Frankreich Hitler ausliefern wollte, den anderen der Mann, der gegenüber ständigen deutschen Forderungen die Substanz der Nation rettete.

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Im Juli ist Pétain 20 Jahre tot. Von einigen kurzen Betrachtungen abgesehen schwieg Frankreich. Aber in zwei kleinen Pariser Kinos läuft jetzt gerade ein Film (Le chagrin et la pitié), der ursprünglich für das Fernsehen bestimmt war. In vier Stunden gibt der Sohn des saarländischen Regisseurs Max Ophuels ein Panorama der Besatzungsjahre.

Bis vor kurzem lautete die offizielle Version einfach, das besetzte Frankreich habe sich wie ein Mann in der Widerstandsbewegung gegen die Besatzungsmacht erhoben, während die Regierung in Vichy aus gekauften Söldnern des Dritten Reiches bestand.

Ophuels junior sieht es anders, die staatliche TV-Anstalt ORTF wagte es jedoch nicht, diese Zusammenstellung aus Archiven, Zeugnisse noch lebender Franzosen und deutscher Offiziere, auf die Mattscheibe zu lassen. Das Publikum sei dafür noch nicht reif, erklärte die Direktion. Aber hunderte Pariser pilgern täglich in die beiden Kinos und setzen sich einer Darstellung aus, die der Wahrheit eher entspricht als die bisherigen Lesarten.

Es war vielleicht das größte Verdienst de Gaulles, daß er seinen Appell, Deutschland Widerstand zu leisten, als einziger an eine Nation richtete, welche 1940 in der Mehrheit bereit war, die Niederlage zu akzeptieren. Das Volk war durch den totalen Zusammenbruch der Armee traumatisiert. Es rief nach einem Retter, den es in der Figur des einzigen überlebenden Marschalls des ersten Weltkrieges zu erkennen glaubte. Nach dem Waffenstillstand war Frankreich pétainistisch, aber nicht gaullistisch eingestellt.

Philippe Pétain ist auch keineswegs durch eine obskure Intrige mit 84 Jahren an die Macht gekommen. Der letzte Ministerpräsident der III. Republik träumte von einer Fortsetzung des Kampfes in der Bretagne oder wollte von Nordafrika aus Krieg führen, wie es de Gaulle dann an der Seite der Alliierten versuchte. Zur Stärkung des Prestiges seiner Regierung hatte Reynaud Pétain als Vizepräsident in sein Kabinett berufen. Pétain, wie der neue Oberbefehlshaber des Feldheeres General Weygand, sah keine Möglichkeit, den aussichtslos gewordenen Kampf fortzusetzen. Sie bildeten die sogenanqte Friedens-, Partei und verlangten sofortige Eröffnung von Verhandlungen mit deh Deutschen.

Am 10. Juli 1940 wurde die Natio nalversammlung, Kammer und Senat, in Bordeaux zu einer außerordentlichen Sitzung einberufen. Mit 569 Stimmen gegen 80, bei 649 abgegebenen Stimmen, wurde Pétain die gesamte legislative und exekutive Gewalt anvertraut. ,

In den politischen Prozessen nach der Befreiung wurden der Marschall und sein erster Mitarbeiter, Pierre Laval, angeklagt, die Nationalversammlung erpreßt und sich die Verfassungsänderung erschlichen zu haben. Die gaullistische Geschichtsschreibung hält teilweise noch an diesen Thesen fest. Laval mag einige Abgeordnete unter Druck gesetzt haben — die überwältigende Mehrheit spricht für sich. An Stelle der traditionsreichen parlamentarischen Republik wurde ein Zwitterwesen geboren, welches autoritäre Züge aufwies, aber in keiner Weise als faschistisches System angeprangert werden kann.

Die Legalität der Machtübernahme ist kaum zu bestreiten. Die wichtigsten Staaten, USA und Sowjetunion, nahmen diplomatische Beziehungen zu Vichy auf. Auch der Vatikan entsandte einen Nuntius. Marschall Pétain und seine Kollegen wollten Frankreich vor dem Schicksal bewahren, das Hitler dem besetzten Polen auferlegt hatte.

Die Handlungsfreiheit des Regimes von Vichy war überaus eingeengt, viele Maßnahmen der Deutschen mußten von der französischen Regierung gedeckt werden, das Volk konnte manchmal nicht sehen, wie weit Vichy für eine Maßnahme verantwortlich zeichnete. Die Judengesetzgebung, der Kampf gegen die geheimen Gesellschaften (Freimaurer); die Zwangsrekrutierung der Arbeiter für deutsche Fabriken waren ausschließlich dem Konto der Besatzungsmacht gutzuschreiben.

Gauleiter Sauckel verlangte für den Einsatz in der deutschen Kriegsindustrie 2,6 Millionen Männer und Frauen, bekam aber nur 667.000. Von einigen Freiwilligen in der Waffen- SS abgesehen, beteiligte sich Vichy in keiner Weise an dem propagierten „Kreuzzug (gegen den Bolschewismus“.

Freilich war die Regierung von Vichy oft ungeschickt. Sie lobte, in der Öffentlichkeit, zu sehr den Feind. Aussprüche Lavals lassen noch heute einen bitteren Geschmack zurück. Aber alles in allem haben der

Photo: Votav»

Marschall und seine Mitarbeiter größere historische Verdienste vorzuweisen, als seine Gegner wahrhaben wollen. Der uralte Mann wurde, wie der Zeithistoriker Robert Aron vermerkt, nach der Befreiung schlechter behandelt als der unglückliche Ludwig XVI.

Die regimefreundliche Tageszeitung „Figaro“ lädt die politischen Verantwortlichen ein, anläßlich des 20. Todestages des Marschalls durch eine „spektakuläre Geste“ die Nation zu versöhnen und die Geister der Vergangenheit zu bannen.

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