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Zivilisten theoretisch tabu

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Die Fernschreiber in der Zentrale des Internationalen Roten Kreuzes, wie auch in der benachbarten Liga der Rotkreuzgesellschaften, laufen seit Wochen auf Hochtouren. Seit dem Bürgerkrieg in Nigerien hat es einen solchen Großalarm für die Sendboten der Humanität nicht mehr gegeben, denn Millionen von Ostpakistanern sollen vor Hungertod und Cholera bewahrt werden. 130 nationale Rotkreuzgesellschaften werden in den Genfer Schaltzentralen koordiniert, damit die Hilfe gezielt und nicht verzettelt wird, soweit solche Koordination überhaupt möglich ist.

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Die Fernschreiber in der Zentrale des Internationalen Roten Kreuzes, wie auch in der benachbarten Liga der Rotkreuzgesellschaften, laufen seit Wochen auf Hochtouren. Seit dem Bürgerkrieg in Nigerien hat es einen solchen Großalarm für die Sendboten der Humanität nicht mehr gegeben, denn Millionen von Ostpakistanern sollen vor Hungertod und Cholera bewahrt werden. 130 nationale Rotkreuzgesellschaften werden in den Genfer Schaltzentralen koordiniert, damit die Hilfe gezielt und nicht verzettelt wird, soweit solche Koordination überhaupt möglich ist.

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Während die Kommandos an Flughäfen und Ärzte, an die großen Arz- neimittelifabriken und Lefbensmittel- konzeme hinausgingen, berieten fast drei Wochen lang die Vertreter von 40 Regierungen im gleichen Haus über die Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts. Der Anschauungsunterricht von nebenan hat dazu beigetragen, daß jeder Versuch vom Demagogie im Keim erstickt wurde. Polemiken blieben auf der Strecke.

Knapp neun Monate ist es erst her, daß die Genfer Delegierten eine höchst ungewöhnliche Aufgabe übernahmen: die Fl-ugzeugattentäter in der arabischen Wüste blieben auf ihre Intervention hin straffrei, damit die Geiseln am Leben bleiben konnten. Statt weltweiten Dankes ernteten die Männer des IKRK heftige Kritik, es gab Sündenböcke und schließlich sogar Umbesetzungen an der Spitze.

Bei der jetzt beendeten Tagung reifte als späte Frucht jener Wochen immerhin die Erkenntnis, daß Guerillakämpfer keinen Anspruch auf international bindenden Schutz hätten, solange sie selbst keine Verpflichtungen, die diesen Rechten entsprechen müssen, übernehmen. Es war zu erwarten, daß Vertreter aus Asien und Afrika den Kombattantenstatus der Guerillas und Partisanen und damit der potentiellen Attentäter und fünften Kolonnen verlangen würden — die Mehrheit hat sich diesem Begehren widersetzt. Auch weiterhin rangieren Guerillas hinter den Kämpfern eines Bürgerkrieges, in dem einigermaßen deutlich sichtbare Fronten, Führer und Abzeichen Freund und Feind voneinander trennen.

Die erste und die zweite der vier Kommissionen hatten die Hauptlast der Arbeit. Schutz von Verletzten sowie Sanitätern in Bürgerkriegen — hier einigte man sich rasch, eine Ergänzung von Artikel drei der Genfer Abkommen aus dem Jahr 1949 wird auf der nächsten Tagung in einem Jahr der veränderten Weltlage Rechnung tragen, wo aus Angst vor dem großen Krieg gegen die lokalen Auseinandersetzungen nichts mehr unternommen werden kann.

In der zweiten Kommission war es schon schwieriger: Was ist ein „nicht internationaler bewaffneter Konflikt“? Wann und wo beginnt er, nach weichen Regeln verläuft er, wann und durch wen endet er? Ist Vietnam noch ein Bürgerkrieg, ist die Auseinandersetzung zwischen Pakistan und Indien bereits einer? Die Ergebnislosigkeit dieser Kommission ist nach Lage der Dinge jedoch für das weitere Wirken des Roten Kreuzes eher vorteilhaft gewesen, seine Arbeit kann und muß in erhöhtem Umfang von der Realität und nicht von der Legitimität ausgehen.

Einig war die Konferenz in der dritten Kommission, daß der Schutz der Zivilbevölkerung vorrangig sei. Sie darf weder zu Kampfhandlungen gezwungen noch Strafexpeditionen ausgesetzt werden. Die Totenglocken von My Lai läuteten vernehmlich und warnend. In der vierten Kommission schließlich, die erst zum Schluß der Tagung gebildet wurde, ging es um die Fortentwicklung des Völkerrechts, die Basis also, auf der UNO und IKRK eng Zusammenarbeiten. Statt, wie bisher oft erlebt, einander die Kompetenz zu bestreiten, müssen sie zukünftig in gesunder Konkurrenz dafür sorgen, daß im Konfliktsfall gleich zwei internationale Feuerwehren zur Stelle sind. Oft genug wird die UNO dabei dem IKRK den Vortritt lassen müssen.

Das moralische Gewicht des Roten Kreuzes überwiegt augenblicklich eindeutig das der UNO. Seine Handlungsfähigkeit hat sich in Krisen und Kriegen immer stärker erwiesen, während die UNO oft am Veto eines Mitgliedes scheiterte, arbeitet hier ein unpolitischer Stab von Fachleuten, der satzungsgemäß in seiner Spitze immer aus neutralen Schweizern bestehen muß. Das war und bleibt die Chance der Männer vom Roten Kreuiz, Roten Halbmond und Roten Löwen. Wer schon morgen selbst das Opfer einer Aggression oder eines Bürgerkrieges sein kann, hat heute begreifliches Interesse, daß die Genfer Zentralen frei von politischen Parteinahmen bleiben.

Auch die Grenze des Roten Kreuzes wurde in dieser Tagung ausführlich diskutiert. Totalitäre und halb- totalitäre Staaten versuchen immer wieder, die nationalen Rotkreuzgesellschaften ihren politischen Interessen anzupassen. Die CSSR, um nur ein Beispiel zu nennen, reagiert auf alle Gesuche, noch dort lebende Kinder von Emigranten wieder ihren Eltern zuzuiführen, mit völligem Schweigen. Das Rote Kreuz mit seinen Hauptstellen in Prag und Bratislava wird so notgedrungen zum

Vollzugsorgan des totalitären Staates.

Nicht viel anders ist es in Griechenland. Die Delegierten der Genfer Zentrale haben schon seit langem keinen Zutritt mehr zu den Gefängnissen. Hier rächt sich, daß die Unterzeichner der Genfer Konvention sich seit Jahrzehnten nicht dazu aufraffen können, auch die Anregung des IKRK aus den dreißiger Jahren aufzunehmen, wonach alle politisch Internierten mit in den Schutz- bereich aufzunehmen seien.

Die jetzt abgeschlossene Konferenz brachte keine spektakulären Ergebnisse, aber soviel Fortschritte betreffend Definition und Anwendung völkerrechtlicher Grundsätze, wie man sie selten bei internationalen Konferenzen mit latenten Konfliktstoffen und Interessengegensätzen erlebt

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